Westbam/ML
„Famous Last Songs Vol. I“
(WG Records/Embassy One)
Nun ist er nicht der Einzige, der sich für die eingeschränkte Bewegung während der Pandemie bzw. für die fehlende Motivation zu selbiger eine eigene Strategie überlegte, mehr noch, seine war und ist eine der meistgenutzten: Maximilian Lenz, besser bekannt unter seinem Pseudonym Westbam, hat sich vor einigen Monaten zum ausgiebigen Spaziergang durch seine Heimatstadt Berlin entschlossen. Tagtäglich. Natürlich standesgemäß mit Kopfhörer auf dem Schädel, irgendwie ist man ja doch im Dienst und will was hören beim Laufen: „Seitdem fahre ich täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln an irgendeinen Berliner S-Bahn-Endbahnhof und gehe zu Fuß zurück nach Mitte. Reinickendorf, Steglitz, Grunewald, Marzahn, Lichtenberg – ich lege täglich zehn bis fünfzehn Kilometer zurück. Mittlerweile muss ich schon in die Seitenstraßen ausweichen, damit ich mal irgendwo hinkomme, wo ich noch nicht war.“ Aus dem DJ ist also ein Flaneur geworden und das nicht nur, weil Auflegen recht schwierig ist, wenn die Clubs vernagelt sind. „Spazierengehen und Tanzen sind einander verwandte Vorgänge“, sagt er in den Notizen zu seinem neuen Album und sogleich fällt einem das seltsam tastende Schreiten im Nebel, die Versunkenheit der Gothjünger*innen damals in den 80ern ein.
Womit der Kreis fast schon geschlossen wäre, denn Lenz hat sich erneut – ähnlich wie bei seinem 2013 erschienenen Werk „Götterstrasse“ – mit den 80ern die höchstverehrte Epoche seiner Jugendzeit vorgenommen und daraus mit Hilfe vieler Gäste gepflegte Tanzmusik für’s Heute eingespielt. Man darf annehmen, dass auch hier wieder manch sehnsüchtiger Traum erfüllt wurde, nach Iggy Pop, Bernard Sumner und Richard Butler steuerten nun John Marsh von The Beloved, der ewigjunge Marian Gold (Ex-Alphaville) und Dieter Meier von Yello ihren Gesang bei – dass Lenz nicht nur Musiker und Produzent, sondern immer auch Fan geblieben ist, darf man ruhig unterstellen, es macht ihn ja durchaus sympathisch. Ebenfalls wieder mit an Bord Langzeitfreundin Inga Humpe, sie gibt dem „Wasteland“ und also der verlassenen Großstadt eine angemessen reife, auch schon mal brüchige Stimme und unterstreicht so die Meinung des Künstlers, Perfektion spiele für ihn eine eher untergeordnete Rolle: „Wir sehen mit der Zeit vielleicht nicht alle immer geiler aus, aber die meisten von uns werden immer besser in dem, was sie tun.“
Das gilt dann selbstredend auch für ihn. Partymucke für den Freakout um Mitternacht ist auf der Platte kaum zu finden, Westbam macht eher den Sound für die Zeit nach dem großen Rausch, für die Stunden der Ermattung, des allmählichen Verlierens, der Trance. Dunkles Pochen und Wummern sein Markenzeichen, Standarddistanz fünf Minuten plus, pulsierender, geschmeidiger Zwischenlichtsound. Hier ein bisschen französische Leichtigkeit, Ben Becker darf für die DAF-Hommage standesgemäß den durchgeknallten, blutrünstigen Quertreiber daherraunen und an Henning Wehland von den eigentlich doch recht durchgerockten H-Blockx aus Lenz‘ Heimatstadt Münster ist scheint’s doch ein Darkwaver verloren gegangen. Dass Westbam extar für ihn die maximal zitierte Stooges-/Bauhaus-Bassline aus dem Keller holt, ist zwar nicht sonderlich originell, aber konsequent. Am Ende brennt die Siegessäule, kein Fanal, eher ein Lagerfeuer und kurz darauf hebt Dieter Meier an zum wohl schönsten Track des Albums „No Melody“. Das alles ist Musik, die einen nicht umhaut, in den besten Momenten aber gleichwohl zu verzaubern vermag – ein paar Erinnerungen, ein paar Bilder, von früher für jetzt. Und wer weiß, vielleicht gibt es ja doch noch mal eine blue hour, irgendwo in einem schummrigen Kellerclub dieses Landes, wo der Kopf spazierengeht und die Füße tanzen dürfen.
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