Freitag, 29. Januar 2021

The Notwist: Universalgenies

The Notwist
„Vertigo Days“

(Morr Music)

Es wäre natürlich überaus anmaßend, zu behaupten, Menschen, die sich der Schallplatte und also dem klassischen Musikalbum verweigerten, würden ein äußerst armes Leben führen. Es sei vielmehr jeder/m selbst überlassen, auf welche Weise er oder sie das Klangerlebnis sucht. Es soll zum Beispiel Leute geben, die können die Songs ihrer Lieblinge nur bei geöffneten Fahrzeugdach, auf menschenleerer Strecke und ab einer gewissen Geschwindigkeit erst so richtig genießen; wo die einen zur Vollendung des Hörerlebnisses Rotwein und Tropfkerzen im Dutzend brauchen, genügt anderen ein dunkler, schalldichter Keller mit der Lautstärke einer Anlage, die dritte wiederum umgehend als Folterversuch nach Den Haag weitermelden würden. So viele Genres und Stile, so viele Möglichkeiten, damit glücklich zu werden. Die Musik der Band The Notwist nun war schon immer eine besondere, ihre Alben im besten aller Sinne dafür geeignet, Klang nicht nur zu hören, sondern auch zu zelebrieren. Spätestens seit ihrem Kursschwenk um die Jahrtausendwende und dazugehörigen Meisterwerk „Neon Golden“ möchte man ihre Neuveröffentlichungen mehr als nur erfreut zur Kenntnis nehmen, einschalten, wegsortieren – die Behauptung, dem unglaublich vielschichtigen, reichen Klangkosmos des Weilheimer Kollektivs könnte man nur mit dem nötigen Maß an Muße, Konzentration und Geduld gerecht werden, ist sicherlich nicht allzu gewagt.



Legt man also die Nadel in die Rille, ist eines der ersten Geräusche, die zu vernehmen sind, das wohlvertraute Knistern des rotierenden Vinyls und es zeugt von Humor der Band und ihres genialen Produzenten Olaf O.P.A.L., dass eben jenes Geräusch vom Band zugespielt wurde, also auch in der digitalen Variante nicht fehlt. Ein erster Notwist-Moment, es werden viele Folgen. Die Platte über das Schwanken, das Kippen und Unwägbare unserer Tage öffnet, mehr als noch der Vorgänger „Close To The Glass“, eine Unmenge an neuen Türen, setzt zusätzliche Kolorierungen, probiert Dinge, die einen staunen machen. Der Jazz bekommt, auch mit den wunderbaren Klarinetten-Einspielungen von Angel Bat Dawid („Into The Ice Age“) noch mehr Raum, es krautrockt stellenweise ganz vorzüglich und selbst mit richtig lauten, richtig harten Gitarrenakkorden wird diesmal nicht gespart. Asiatische Stimmsequenzen, afrikanische Percussions, minimalistisch hingehauchte Passagen („Ghost“, „Night’s Too Dark“) und wilde psychedelische Einschübe („Al Sur“) – alles findet hier einen Platz und nichts ist beiläufig oder in seiner Wirkung dem Zufall überlassen.



Zu den überaus klug arangierten Sounds gesellt sich wieder Markus Achers zarte, ja fast übervorsichtige Stimme. Sein Gesang (mit dem eigenwillig deutschen Englisch) klingt stets so, als hätte er Angst, die Andacht der Zuhörer zu stören. Und doch macht erst er die Hypnotik der Songs perfekt, macht sie, tief eingebettet ins melancholische Moll, so anrührend. Apropos anrührend: Je öfter man diese neue Platte hört (und man kann das wirklich sehr, sehr oft tun), desto häufiger stellt man sich die Frage, ob es da draußen überhaupt jemanden geben könne, der sich von dieser Musik nicht einfangen ließe? Könnte man also (seltsamer Gedanke), die Musik der Formation nicht der Völkerverständigung nutzbar machen? Wohl wissend, wie albern und abwegig diese Idee auch klingen mag, im Grunde machen The Notwist als Kuratoren des Festivals „Alien Disko“ nichts Anderes. Und auch die Gäste auf „Vertigo Days“, seien es Saya Ueno, Ben LaMar Gay, Zayaendo oder auch Juana Molina (die der unkundige Rezensent gerade erst in der fabelhaften Netflix-Doku „Rompan Todo“ kennenlernen durfte), befeuern dieses Anliegen. Universeller als diese Band kann eigentlich keine sein, besser als auf diesem Album kann man das kaum verdeutlichen, schöner klingen tut dieser Tage ohnehin kaum etwas – ganz egal, wo man’s denn hört.

Keine Kommentare: