Donnerstag, 25. März 2021

Gazelle Twin vs. NYX Electronic Drone Choir: Anstrengende Unterhaltung

Gazelle Twin &  NYX Electronic Drone Choir
„Deep England“

(Nyx Collective Records/Cargo)

Wir Deutschen neigen ja gern dazu, etwas, das wir nicht verstehen oder erklären können, wenigstens kategorisieren und einordnen zu wollen. Nicht von ungefähr sind wir wohl der einzige Sprachraum, der Musik mit den Etiketten „E“ für ernsthaft und „U“ für unterhaltsam versieht, und wenn wir so nicht weiterkommen, versuchen wir es in unserer Hilflosigkeit noch mit „F“ als funktional oder „A“ wie autonom. Was für ein Mumpitz! Auch, weil das komplette Werk von Elizabeth Bernholz alias Gazelle Twin keinem dieser Raster gerecht würde und somit der Rat heißen müsste, es in Ablage „K“ zu sortieren – wie „Keine Ahnung“ also. Natürlich sind Wegweiser nützlich und erleichtern den Erstkontakt, aber eine vorbehaltlose, unbefangene Annäherung macht doch allemal mehr Spaß als die öde Beschäftigung mit der zwanzigsten Wiederauflage des immer gleichen Versuchs, das nächste Hitalbum hinzulegen, es mal wieder allen zu zeigen, den Alten, den Jungen, den Kritikern. Lieber doch jemandem zuhören, die oder der begriffen hat, dass Unterhaltung auch anstrengend sein darf, weil ja die Kunst das Ich in der Gesellschaft spiegelt und das eben nur dann spannend ist, wenn es knirscht.

Und schon sind wie bei PJ Harvey und ihrem „The Hope Six Demolition Project“, sind wir bei Alejandra Ghersi aka. ARCA, bei Björk, den Swans, Holly Herndon, Anohni, Planningtorock oder Fever Ray. Und nicht ganz zufällig war letztere auch für Bernholz das auslösende Moment, Genregrenzen zu überwinden und künstlerisches Selbstverständnis über die Konvention zu stellen. 2018 ist mit „Pastoral“ das letzte Studioalbum von Gazelle Twin erschienen, es übersetzt auf sehr spezielle Weise den zunehmend chaotischen Zustand Englands der ersten Jahre des Brexits in eine zum Teil altertümlich anmutende Kulisse, der Sound ist ein sehr freier, avantgardistischer Stilmix, elektronisch, künstlich, ungemein komplex, und ja: auch herausfordernd und anstrengend. Diese Platte nun, die ja selbst schon über eine Zeit von vier Jahren entstanden ist, hat sich Bernholz nun noch einmal in Zusammenarbeit mit dem Londoner Electronic Drone Choir NYX vorgenommen, hat einige der Stücke auseinandergenommen, mit gänzlich anderen Komponenten versehen und erneut zusammengesetzt. Sechs der nun vorliegenden acht Kompositionen haben diesen Wandlungsprozess durchlaufen, einzig „Fire Leap“ und „Golden Dawn“ („Deep England“ selbst stammt in der Urfassung von der Single „Hobby Horse“) sind neu hinzugekommen.



Die Grundierung jetzt weltliche und sakrale Choralmusik, elektronisch versetzter Drone-Folk, mal zart und zerbrechlich mit Flötentönen und Flüsterstimmen, mal dramatisch und ungemein düster (weil es ja im Kontext zur politischen Lage auch die Umstände düster geworden sind). Die Gesänge des sechsköpfigen Chorensembles werden dabei wie Instrumente in die Stücke verbaut, einzeln, mehrspurig, hier klassisch gregorianisch oder gar als Koloratur, dort in Form von verzerrten oder verfremdeten Klangsequenzen. Bei „Better In My Day“ beispielsweise, auf „Pastoral“ noch mit deutlich elektronischer Textur, übernehmen die hektischen Stimmen quasi den Beat. Die Texte stammen dabei wieder hauptsächlich von Bernholz selbst, „Fire Leap“ dagegen geht auf eine Komposition von Paul Giovanni und „The Wicker Man“ zurück und auch William Blake erfährt später wieder seine Würdigung. Die ursprünglichen Stücke bekommen durch die Metamorphose einen organischeren, im Falle des Titelstücks sogar elementaren Klang, werden unmittelbarer, auch drängender. Das zu erkennen, ja zu spüren, braucht es eigentlich kein Vorwissen. Dazu reicht allein die Bereitschaft, sich einzulassen.

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