Freitag, 16. April 2021

Messer vs. Toto Belmont: Rückbau als Chance

Messer (von links): Milek, Pogo McCartney, Hendrik Otremba, Philipp Wulf
Man hört ja oft zu Recht, in Zeiten der Pandemie werde die Welt des eigenen Erlebens ein ganzes Stück kleiner. Um so wertvoller sind dann die kurzen Momente, die den Blick weiten, den Geist öffnen können - sei es durch Literatur, Film oder Musik. Oder durch ein Gespräch. Die Münsteraner Band Messer hat gerade einen Dub-Remix auf Albumlänge ihrer letzten Studioplatte "No Future Days" veröffentlicht, entstanden zusammen mit dem finnischen Freund, Musiker und Produzenten Kimmo Saastamoinen alias Toto Belmont. Der Umbau war radikal und unter Lockdown-Bedingungen manchmal eine Herausforderung, das Ergebnis ist überraschend und faszinierend zugleich. Und zwar nicht nur für die Zuhörer*innen, auch die Band ist von der Dekonstruktion der Tracks und den neuen Eindrücken nachhaltig begeistert. Ein Stück von dieser Freude einzufangen, haben wir (in München) uns via Zoom mit Sänger und Texter Hendrik Otremba (in Berlin) und Drummer Philipp Wulf (in Hamburg) getroffen und in dieser maximalen Dreieckskonstellation über die Wiederkehr alter Ideen, die Kraft des Dub, Rückkopplungen und die beseelende Wirkung der Tanzmusik gesprochen.

Wenn ich behaupte, ich hätte zu dieser neuen Dub-Version von „No Future Days“ einen weitaus besseren Zugang als zum Original, wie geht Ihr damit um?

Hendrik: Das geht mir genauso (lacht) …
Philipp: Für mich ist das neue Album tatsächlich eines, dem ich mich ganz anders nähern, das ich fast wie ein Stück fremde Musik hören kann. Für meinen Teil liegt das hauptsächlich daran, dass Kimmo die Platte neu zusammengesetzt hat und ich mich nicht in einem eigenen Spiel wiedererkenne. Schlagzeug und Percussion kommen nur noch als Samples in einem elektronischen Setting vor. Zumal das Analytische beim Hören wegfällt, was mich bei den eigenen Songs immer begleitet, solange man seinen Part als Musiker betrachtet. Daher fühlt sich die Platte wie ein Geschenk an: Kimmo hat unsere Platte in einen Sound verwandelt, auf den wir beide total stehen, bei dem ich aber niemals gedacht hätte, dass der im „Messer-Kosmos“ einen Platz finden könnte.
Hendrik: Das empfinde ich ähnlich – Kimmo hat uns da den Genuss des eigenen Schaffens zurückgegeben. Ich gehöre ja nicht zu den Leuten, die meinen, dass sie ihre eigenen Sachen nicht hören können, das halte ich für ziemlichen Quatsch. Klar gefällt mir manchmal mein Gesang nicht so gut oder ich finde einen Text scheiße, aber es gibt eben auch immer wieder Momente, die mich begeistern. Das hier ist aber etwas völlig Neues und es ist gar nicht so leicht, das zu beschreiben. Zum einen ist da so ein Vertrautheitsgefühl, andererseits hat die Musik aber auch eine Eigenständigkeit, auch deshalb, weil es nicht nur ein Song und ein Remix ist, sondern weil Kimmo so viele Stücke bearbeitet hat. Mir geht es beim Hören so, als würde ich mich auf der anderen Straßenseite laufen sehen und zwar in Klamotten, die ich gar nicht besitze. Und die mir dennoch gefallen.



Um beim Thema zu bleiben – wie klingen in diesem Zusammenhang dann die alten Platten für Euch?

Philipp: Es kommt eigentlich eher selten vor, dass ich mir unsere alten Platten anhöre. Viele Songs spielt man im Laufe der Jahre ja ohnehin ständig und wenn man sie eine Weile spielt, dann verändern sie sich nach und nach. Erst wenn man dann mal wieder eine ältere Platte hört, wird einem bewusst, wo und wie man mittlerweile vom Ursprung abweicht. Und es ist spannend, Stücke zu hören, die nicht zur Setlist gehören, die haben dann tatsächlich etwas angenehm Fremdes an sich. Und wo du gerade nach alten Platten fragst: Interessanterweise hatten wir nach den Aufnahmen zu unserem ersten Album „Im Schwindel“ den Plan, eine Art experimentelle, elektronische Kraut-Platte zu machen. Die sollte den Namen „No Future Days“ tragen. Wir haben dann ein paar schrottige Skizzen dafür aufgenommen, aber dann fielen uns plötzlich die Songs für „Die Unsichtbaren“ in den Schoß und der Plan wurde verworfen. Als wir fürs vierte Album einen Namen suchten, kam der Titel dann wieder auf – viel zu gut, um ungenutzt zu bleiben. Die Ironie der Geschichte ist, dass Kimmo jetzt mit der zugehörigen Dub-Platte quasi unseren Anspruch von damals verwirklicht hat.
Hendrik: Mich fasziniert vor allem, dass „No Future Days“ zuerst für uns eher so ein aufgeladenes Konstrukt war, mit Bezügen zu Punk und zum Album von CAN, aber heute und nach all den Jahren hat die Idee einen völlig anderen Kontext bekommen. Plötzlich haben dann Begriffe eine ganz neue Bedeutung, die man zuvor noch gar nicht angedacht hatte. Das passiert übrigens nicht nur, wenn man Bücher schreibt oder Musik macht, sondern auch beim Rezipieren – wenn wir beispielsweise Filme nach zwanzig Jahren wieder anschauen und ganz andere Seiten entdecken oder auch damit gar nichts mehr anfangen können. Das ist für mich ein ganz ähnliches Erleben.

"Mir geht es beim Hören so,
als würde ich mich auf der anderen Straßenseite
laufen sehen und zwar in Klamotten,
die ich gar nicht besitze.
Und die mir dennoch gefallen."


Kann es auch sein, dass die Zeit vielleicht noch nicht reif dafür war? Wenn man sich „Jalousie“ anhört, dann ist diese Platte ja schon deutlich elektronischer, experimenteller geworden, möglicherweise hat es ja dieses Zwischenschrittes bedurft, um jetzt umso konsequenter zu sein?


Philipp: Es war jedenfalls so, dass wir die Arbeit mit Synthesizern und Drumcomputern zwar spannend fanden, aber noch nicht wirklich beherrscht haben.
Hendrik: Das stimmt schon, aber ich glaube, dass das Vergangene immer eine Form des Übergangs zu dem ist, was jetzt gerade passiert. Zudem wäre ich vorsichtig mit dem Begriff der Entwicklung, weil ja bei „No Future Dubs“ das Prägende gar nicht von uns selbst stammt, sondern eben von außen. Kimmo hat ja etwas zu Tage gefördert, was wir eigentlich nur angelegt hatten, das macht die Sache für mich so speziell.

Wer war denn die treibende Kraft hinter der Idee des Dub-Albums?

Philipp: Den Impuls hat Kimmo gegeben. Erstmals war er für einen Remix von „Anorak“ in Erscheinung getreten, den er als klassische Dub-Techno-Nummer geremixt hat. Und weil er Lust hatte weiterzumachen und ihm „No Future Days“ gut gefiel, hat er dann im Lockdown um die Spuren des ganzen Albums gebeten. Weil er anfangs nur die „Anorak“-Spuren hatte, hat er sich zunächst an eine weitere Version davon gemacht. Deswegen gibt es jetzt die komplett verschiedenen Fassungen „A No. 2“ und „A No. 3“. Mit letzterem hat er uns allen dann so sehr die Schuhe ausgezogen, dass schnell die Idee aufkam, eine ganze Platte mit Dubs zu machen. Und ab dann schickte er regelmäßig neue Mixe rüber, über die wir uns dann ausgetauscht haben. Und ich erinnere mich an WhatsApp-Chats, in denen er nach der Bedeutung einzelner Worte fragte oder an welcher Stelle man Sätze abschneiden könne, ohne sie dem Sinn nach ganz zu entstellen.



Wieviel wurde denn von den Original-Tapes verwendet? Mussten Sachen neu eingespielt werden, die Vocals beispielsweise?

Philipp: Das ist witzig, dass Du fragst, ich finde nämlich auch, die Vocals klingen, als wären sie für diese Platte aufgenommen worden.

Ja klar, ich war fest davon ausgegangen, dass Hendrik da an vielen Stellen noch mal neu einsingen musste …

Hendrik: Nee, absolut gar nix. Meine These lautet ohnehin, dass Kimmo meine Stimme per Autotune so bearbeitet hat, dass sie zur Abwechslung mal gerade, im Takt und harmonisch wirkt.
Philipp: Er hat oft die Geschwindigkeit der Songs geändert – also auch die Gesangsparts mal schneller, mal langsamer laufen lassen …
Hendrik: (lacht) Das wusste ich noch gar nicht!
Philipp: Ansonsten hat Kimmo teilweise Bass-Parts ergänzt und einige Synthesizer eingespielt, viele der Synthies und Orgeln stammen aber auch von unserer Platte, sind dort aber nicht so laut hörbar. Mileks Gitarren wiederum spielen auch auf der Dub-Platte eine wichtige Rolle. Den Rest hat Kimmo virtuos aus Samples zusammengesetzt.

"Wir wollen immer, dass etwas geschieht,
sich etwas Neues ergibt mit den Dingen,
die wir machen – so gesehen
hat sich das quasi aus der Logik von Messer
heraus schon entschieden."


In so einer Produktion wird ja das Original komplett umgearbeitet und anders geordnet, die Prioritäten werden neu vergeben. Die Stimme beispielsweise fungiert ja hier eher als zusätzliches Instrument, tritt in den Hintergrund. Ist das eigentlich okay für Dich, Hendrik? Schließlich hast Du Dir ja bei den Texten einiges gedacht …

Hendrik: Ja, das ist mehr als okay. Schon allein deshalb, weil es das Original mit „No Future Days“ ja noch gibt. Würde das eine das andere ersetzen, fände ich das schon komisch. Ohnehin geht es mir bei Messer so, dass ich viele Texte im Moment des Entstehens gar nicht so sehr hinterfrage, ich bin da eher bei John Cage, der gesagt hat: „Never create and analyse at the same time. They’re different processes.“ Das wirklich Spannende für mich ist eher, dass Kimmo als Nicht-Muttersprachler die Dinge neu zusammensetzt und ich daraufhin wieder eine andere Bedeutung entdecken kann. Bei „Tiefenrausch IIb“ zum Beispiel, das ja für mich eine sehr persönliche Komponente und einen familiären Bezug besitzt, hat diese neue Tiefe und Sanftheit für mich eine zusätzliche Ebene aufgemacht, die es vorher nicht hatte.

Du setzt Dich dem also bewusst aus?

Hendrik: Absolut, ja.

Es hätte ja auch genauso gut sein können, dass bestimmte Eitelkeiten mit hineinspielen …

Hendrik: Eitelkeiten gibt es bei Messer in jedem Falle auch, das will ich gar nicht leugnen. Aber die Band gibt es jetzt seit über zehn Jahren, die Freundschaften noch länger, und wir haben als Band gelernt, im Laufe der Jahre damit umzugehen und finden mittlerweile einen guten und unterhaltsamen Umgang mit solchen Sachen. Überhaupt stand und steht diese Offenheit für uns als Band grundsätzlich nie zur Disposition. Wir wollen immer, dass etwas geschieht, sich etwas Neues ergibt mit den Dingen, die wir machen – so gesehen hat sich das quasi aus der Logik von Messer heraus schon entschieden.
Philipp: So eine produktive Neukontextualisierung der Texte gibt es auch bei „Versiegelter Dub II“: Wo im Original die Zeile „… stellen die Einsamkeit zur Schau“ nur einmal beiläufig vorkommt, erhält sie in der Dub-Version jetzt einen zentralen Platz und illustriert plötzlich die Lockdown-Situation der Vereinzelung.
Hendrik: Planen lässt sich so etwas eigentlich kaum, wir sorgen nur dafür, dass mit unserer Offenheit und der Bereitschaft, eben nicht starr einem Konzept zu folgen, solche Dinge möglich werden.



Nun hat „No Future Days“ auch eine gewisse Nähe zu Deinem Buch, Hendrik, manche/r hat beim Anhören der Platte Bilder und Bezüge aus „Kachelbads Erbe“ im Kopf. Durch die „No Future Dubs“ ändern sich für mich auch diese Bilder wieder, verweist die Deepness des Sounds auf die Cryo-Flüssigkeit, auf stickige Temperaturen und anderes. Seht Ihr solche Rückkopplungen eigentlich auch?

Philipp: Ich bin ja sozusagen Erstrezipient von Hendriks Texten und obwohl ich ahne, dass er überhaupt nicht mit der Intention herangeht, das Buch zur Platte oder umgekehrt zu machen, und obwohl Literatur und Musik schwer zu vergleichen sind, scheint es mir, dass bestimmte Dinge, spezielle Atmosphären da in Wechselwirkung treten. Bei „Tod in Mexiko“ beispielsweise entwickelt sich durch die Musik ein Vibe, den man gefühlsmäßig auch mit Hendriks Hauptfigur in Verbindung bringen kann. Und die neue Fassung „Mexiko“ hat vielleicht sogar eine noch stärker cineastische Qualität.
Hendrik: Mir gefällt der Begriff der Rückkopplung ganz gut, aber ich würde es eher als ungewolltes Feedback beschreiben wollen. Weil in der Regel keine Absicht dahintersteckt. Aber es ist schon so, dass mit dem entsprechenden Abstand Bilder aus dem Roman durch diesen neuen Sound deutlicher zu Tage treten.

Hendrik, Du schreibst ja nicht nur und machst Musik, sondern Du zeichnest zum Beispiel auch viel – sind denn da zukünftig noch mehr Überschneidungen zu erwarten? Stichwort Graphik Novell vielleicht?

Hendrik: Wenn ich an das erste Buch denke, dann kann ich mir dazu einen Zeichentrickfilm für Erwachsene sehr gut vorstellen. Im Juni mache ich aber – und das spielt da ganz gut rein – für das Center For Literature auf der Burg Hülshoff in der Nähe von Münster an drei Abenden performative, szenische Lesungen. Das Ganze findet im Rahmen des Dark Magic Festivals statt, ich werde dort von P.A. Hülsenbeck (Ex-Sizarr) und meinem Bruder Dominik Otremba alias Performance begleitet, es gibt eine 3-D-Animation, es gibt Tanz und ich werde sogar maskiert auftreten. Auch das ist für mich eine Art Remix, ein Rückbau des Buches, weil ich nicht nur aus dem Roman selbst vorlese, sondern auch aus Notizen, Tagebucheinträgen und den Quellen, die für den Roman wichtig waren. Und das ist wiederum mit dem Dub-Album ganz gut zu vergleichen: auch hier geht es um einzelne Bestandteile, ihre Herkunft und um das, was Neues daraus entstehen kann.

Abschließend vielleicht doch noch mal zurück zum Sound der Platte – „A No. 3“ ist nicht nur auf dieser Platte der vielleicht radikalste Track, so sehr Tanzmusik wie kaum ein anderer, den man mit Messer vielleicht am wenigsten in Verbindung gebracht hätte. Independent-Künstlern wie Euch unterstellt man ja gemeinhin ein eher zwiespältiges Verhältnis zur Tanzmusik im Allgemeinen – würdet Ihr das entkräften wollen? Ist das also etwas, was Ihr generell immer wieder machen würdet?

Hendrik: Also – wenn es mal dazu kommt, dass die Gruppe Messer tanzen geht, dann bleibt kein Auge trocken!
Philipp: Das ist natürlich eine Frage der musikalischen Sozialisation: Wie man Musik für sich entdeckt und auch älter und offener wird, wie sich das Lebensgefühl wandelt, das sich in der eigenen Musikwahl spiegelt. Und es hat auch viel mit meiner Freundschaft zu Kimmo zu tun. Als wir uns vor 14 Jahren kennenlernten, haben wir beide in Hardcore-Bands gespielt und waren Straight Edge. Gerade eine derart eingehende Hardcore-Sozialisation nimmt ihren Ausgang in dem Gefühl, etwas unglaublich Spezielles, Exklusives entdeckt zu haben, etwas, das keine Sau kennt, einem selbst aber total entspricht. Zugleich folgte daraus nicht unbedingt eine krasse Engstirnigkeit. Schon als Teenager war mir klar, dass ich noch viele Musikstile entdecken würde, aber ebenso sicher war ich mir: Reggae werde ich niemals gut finden! Mit etwa 19 kamen dann Techno und House dazu. Von Münster aus sind Hendrik und ich dann öfters auf die Kompakt-Partys nach Köln gefahren: Total Confusion mit Tobias Thomas und so weiter. Die Auseinandersetzung mit Techno – speziell mit allem, was aus dem Dunstkreis von Hardwax stammt – führte mich dann schließlich über Dub auch zu Reggae. Und diese ganze Befassung lief immer im engen Austausch mit Kimmo. Wir sind da komplett synchronisiert.
Hendrik: Philipp und ich waren im Zug nach Köln auf eine Kompakt Technoparty, als wir uns entschieden haben, die Band Messer zu nennen.
Philipp: Also – Berührungsängste zu Tanzmusik gibt es überhaupt nicht, bei keinem von uns. Das kommt mir richtig abwegig vor.
Hendrik: Ich glaube, dass sich Messer für uns alle immer schon als sehr körperliche Band angefühlt hat, somit ist das schon mit drin bei uns. Mir fällt da passenderweise ein Abend im Freiburger Slow Club ein, wo wir alle zusammen auf Tour eine Nacht durchgetanzt haben. Milek hat da ganz unglaubliche Moves ausgepackt und selbst Pogo hat getanzt – das kommt wirklich nicht oft vor. Aber wenn er es denn wie dort mit diesem einzigartigen, beseelten Lächeln tut, dann bedeutet das ein unfassbares Maximum an guter Laune.

"No Future Dubs" ist bei Turnland Records/Germany erschienen.

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