Lingua Ignota
„Sinner Get Ready“
(Sargent House)
Gar nicht so einfach, eine Besprechung der Arbeit von Kristin Hayter alias Lingua Ignota nicht zu reißerisch klingen zu lassen. Ihr Lebenslauf gäbe es freilich her – allein die Abschlussarbeit zu ihrem Master Of Fine Arts mit ca. 10.000 Seiten und dem Titel „Burn Everything Trust No One Kill Yourself“ böte wohl reichlich Gesprächsstoff. Und irgendwie will man ja auch ergründen, woher all die religiösen Bezüge stammen, mit denen ihre doch recht eigenwillige Musik seit dem Debütalbum „Let The Evil Of His Own Lips Cover Him“ untrennbar verwoben ist. Zwei Dinge bieten einen möglichen Ansatz: Die streng katholische Erziehung bis hin zur privaten geistlichen Schule in ihrer Kindheit, später dann die teils traumatischen Erfahrungen von Gewalt in mehreren Beziehungen. Im schlimmsten Falle also Machtmissbrauch in zweierlei Gestalt, Unterdrückung, Misogynie, Selbstzweifel, Schuldzuweisungen, das ganze Programm. Grund genug, so scheint es, für eine sehr spezielle Art der Vergangenheitsbewältigung.
Und kaum verwunderlich, dass ihre Art, das Unaussprechliche zu formulieren, sich einer „unknown language“, lateinisch Lingua Ignota also, bedient, dass Hayter Überhöhungen, Zitate, ungewöhnliche Formulierungen nutzt, um das Geschehene, wenn schon nicht erträglicher, so doch wenigstens sichtbar, vielleicht begreifbarer werden zu lassen. Der bisherige Höhepunkt dieser Entblößung war ihr Album „Caligula“, das 2019 erschien und ihr auch und gerade in Kreisen beinharter Metalfans gehörig Respekt einbrachte. Einer stilistischen Einordnung verweigert sich der Sound von Lingua Ignota dennoch – auch wenn die Stimme bei den meisten dort vorgetragenen Songs in Grenzbereiche geht, auch wenn die Gitarren und Synthesizer dröhnen, knirschen und schier bersten, als wäre das Ende nahe. In Erinnerung bleiben vor allem die Brüche hin zu zartesten Passagen, opernartigen Chorälen, die leidenschaftlichen Augenblicken vollkommener Entrücktheit.
Dass ihre aktuelle Platte dieses Faszinosum noch zu steigern vermag, liegt daran, dass es Hayter wie kaum eine andere Musikerin ihres Metiers versteht, Beklemmung, Unbehagen, Trostlosigkeit und Wut auch ohne ohrenbetäubenden Lärm entstehen zu lassen. Ähnlich wie der stumme Schrei von Munch, der beim Betrachten auch wirkt, obschon man keinen einzigen Ton vernimmt, beeindruckt sie in den ruhigen, getragenen, zurückgenommenen Momenten. Natürlich gibt es auch bei „Sinner Get Ready“ genug von beidem: Gleich zu Beginn der neunminütige Klagegesang (lt. Hayter geschrieben aus der Sicht eines asketischen, klösterlichen Frauenordens), der im letzten Drittel mit Hilfe gewaltiger Anschläge dunkelster Pianotöne gleichsam in der Erinnerung festgenagelt wird. Und gleich darauf „I Who Bend The Tall Grasses“, die Vertonung des Gedichtes einer Freundin, bei der man auch nach längerem Hören nicht genau weiß, ob jetzt Gottes tosende Stimme mit dem gekreuzigten Sohn abrechnet – oder umgekehrt.
Und so geht es düster weiter. Im Kopf die Namen vieler Referenzen, ob nun Diamanda Galas, die Einstürzenden Neubauten, Nick Cave oder die Nine Inch Nails, vielleicht die Solowerke von Nico und auf alle Fälle das monumentale Schaffen von Michael Gira und seinen Swans. Doch beeindruckender als die musikalischen Bezüge bleiben die textlichen Verweise: Verse von brutaler, so gar nicht zeitgemäßem Wortwahl, nachempfunden den biblischen Predigern, Eiferern, Propheten, die uns von Schande, Schuld, Reue, Fegefeuer und Erlösung bis ins heute hinein schreien, unterlegt mit Nachrichtenmitschnitten, Interviews, alles ein beängstigender Wirrwarr aus Verdammnis, Heilsbotschaft und Erlösungsglaube. Einzig „Pensylvania Furnance“ übersetzt ihre weltliche Einsamkeit während eines längeren Aufenthalts in der Fremde in anrührend sanfte Töne (und Bilder). All das sicher nichts für schwache Nerven oder loungige Entspannung, im anderen Falle aber in jedem Fall ein großes Erlebnis.
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