All diese Gewalt
„Andere“
(Glitterhouse)
Vor zehn Jahren sang einmal ein kluger Kopf diese Zeilen: „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn, im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen Willen wie aus Wachs. Im Zweifel für die Zwitterwesen aus weit entfernten Sphären, im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären.“ Es ist nicht anzunehmen, dass Dirk von Lowtzow, Sänger und Texter der Hamburger Kapelle Tocotronic, schon damals wusste, was Max Rieger im Jahr 2020 umtreiben würde. Er wollte wohl einfach eine Lanze brechen für die scheinbar Schwachen, Unentschiedenen, Zögerlichen. Und er brach sie unbewusst eben auch für den Mann, der sich hinter dem Pseudonym All diese Gewalt verbirgt, der sonst mit seiner Band Die Nerven deutlich härtere Töne anschlägt. Und der ganze vier Jahre an diesem, seinem zweiten Soloalbum arbeitete, mit ihm haderte, kämpfte und selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gänzlich davon überzeugt war. Rieger hat dieses zähe Ringen mit sich selbst öffentlich gemacht und für einiges Erstaunen gesorgt, schlussendlich übergab er das Werk, wie er dem Radiosender detektor.fm sagte, aber dann doch dem Produzenten, wohl wissend, dass seine Arbeit getan war und diese so schlecht nicht sein konnte.
Tiefstapelei kann man das angesichts des nun hörbaren Ergebnisses nennen. Wo von Lowtzow dem Zweifel einen Song widmet, orchestriert ihm Rieger eine Hymne. „Andere“ ist, zusammen mit dem Film von Nicolas Ohnesorge und David Spaeth, eine dramatische, auch romantische Würdigung unserer eigenen Unvollkommenheit und Befangenheit geworden: Endloser Wald, dunkle Fluchten, dann gleißendes Licht, dazu das fahle, ernste Gesicht von Luzia Oppermann und die eingespielten Stimmfetzen aus dem Automaten, deren künstlichen Klang Rieger „suizidal“ nennt. Das alles ist im besten Sinne großes Kino, starke Bilder treffen wuchtige, fast mystische Klänge, ein wahrhaft faszinierendes Schauspiel. Bis man dort ankommt, hält Rieger für die Zuhörer*innen ähnlich Wundersames und viel Abwechslung bereit. „Erfolgreiche Life“ beispielsweise, die aktuelle Auskopplung, kommt als synthetischer Wavepop daher, das Video spielt mit verstörenden Bezügen zu den Folterszenen aus Guantanamo und der geheimnisvollen Düsternis von Kubricks „Eyes Wide Shut“.
„Etwas passiert“ (und später „Blind“) wiederum reicht ein vergleichsweise sparsamer Pianopart, um die Unentschlossenheit und Ohnmacht des Erzählers zu illustrieren – „Alle die ich kenne, sind längst nicht mehr hier“, singt er und sieht sich dennoch außer Stande, für sich selbst etwas daran zu ändern. Rieger hat in besagtem Interview versucht, das eingangs erwähnte Zitat von der Unzufriedenheit aufzulösen, er sei ohne das sonst gewohnte Korrektiv seiner Mitmusiker teilweise verloren gewesen mit all den Möglichkeiten und Wendungen, die solch eine Soloproduktion mit sich brächten. Für uns stellt sich, bei seinem Genie wohlgemerkt, dieses Suchen und Wechseln zwischen den Stilen als Segen heraus. Ob klackernder Synthpop (á la Depeche Mode zu Violator-Zeiten) bei „Gift“, der Waverock von „Grenzen“, die zarten Hooks mit künstlich gebrochener Stimme in „Dein“ oder das verhallt-verschwommene „Echokammer“, es bleibt ein spannender Kosmos, in den er uns mitnimmt. Die Ungewissheit, mit der sich Rieger während der Arbeit an „Andere“ konfrontiert sah und die dieses Album als roter Faden durchzieht, ist letztendlich auch Teil unseres eigenen Ichs. Und vielleicht ein oder auch der Grund, warum dieses Ablum so berühren kann.
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