Milliarden
„Schuldig“
(Zuckerplatte/Membran)
Das kommt selbst im Land der Dichter und Denker nicht so häufig vor, dass sich eine Band, von der nicht wenige behaupten, sie sei Punk, ihre Zuhörerschaft so deutlich mit Exkursen in Sachen Poesie herausfordert. Wir reden von Milliarden, der Truppe aus Berlin also, denen laut Selbstbezichtigung aus Gründerzeiten die Sonne aus dem Arsch scheint, das Herz übervoll, aber nichts zu fressen. Und genau die haben auf ihrem neuen Album, von dem wir jetzt einfach mal behaupten, es sei ihr bestes, gleich zweimal aus der Hochkultur zitiert – ein Wagnis, das nicht jedermanns Sache ist. Nehmen wir zum Beispiel den Song „Die Gedanken sind frei“. Natürlich denkt der bildungsbürgerliche Auskenner da gleich an Hoffmann von Fallersleben, an von Arnim und Brentano, Wecker und Scholl. Aber so weit oben muss man gar nicht ins Fach greifen, denn Ben Hartmann bleibt zum Glück im Sinngemäßen und dichtet seine eigenen Zeilen zur historischen dazu. Anders in „Wonderland“ – hier wird tatsächlich ausführlich zitiert und zwar aus dem Werk des großen Lyrikers Thomas Brasch und seinem Zyklus „Der Papiertiger“, geschrieben Mitte der 70er Jahre.
So herausgeschrien hat man das Gedicht noch selten gehört, dennoch passt in den Kontext. Und zum Zeitpunkt sowieso, jährt sich in ein paar Tagen doch Braschs Geburtstag und dieser Song wird nicht der einzige sein, der ihn feiert (auch Masha Qrella wird zu diesem Anlass bei Staatsakt eine entsprechende Würdigung in Form des Albums „Woanders“ veröffentlichen). Was Brasch von Milliarden gehalten hätte, kann man nur vermuten, so fremd sollten sie ihm aber nicht gewesen sein. Schließlich verkörpert Hartmann, schlaksig, mit spärlichem Flusenhaar und also von der Natur nicht gerade als Beau verwöhnt, das, was der Dichter sonst gern mag: Brennende Leidenschaft, verortet im Augenblick, mal bitterböse, gradheraus, mal liebestoll und in Träumereien entrückt. Seit Bestehen malträtiert der Mann seine Stimmbänder mit Hingabe, keift er, johlt, brüllt, barmt und zittert, ganz Gefühl, ganz Körperlichkeit.
Und auch in den neuen Stücken schont er sich und andere nicht. Die Fallhöhe, die seine Texte ausmessen, ist erstaunlich – von weltumarmender Begeisterung bis zum Sturz ins Bodenlose ist wieder alles dabei, Hartmann verneint und bejaht im Minutentakt, ist jetzt verzückt, dann verrückt und gleich darauf verzweifelt. Den Songs schadet dieses Auf und Ab kein bisschen, sie sind ein Nachempfinden, Nachspüren dessen, was ihn und natürlich auch uns umtreibt. Und das ist selten nur gut oder nur schlecht, sondern immer irgendwie beides: Die Masken und Verkleidungen, die wir mit uns herumtragen, die uns schützen, verwandeln, aber auch zu Lügnern machen können („Die Fälschungen sind echt“), die Zwänge, die uns binden und denen wir uns nicht entziehen können, auch wenn sie uns manchmal Halt geben („Die Gedanken sind frei“), all das Wollen, Fliegen, Scheitern, Stürzen, das tägliche Mühen halt. So schön wie Milliarden erzählt davon gerade kaum jemand – mag Henning May mit noch so toller Stimme durch monochrome Kulissen schlurfen, er wird sich diese Tiefe so schnell nicht herbeisingen können.
03.03.22 Nürnberg, Z-Bau
04.03.22 Wien, Arena
05.03.22 Jena, Kassablanca
09.03.22 Rostock, Mau Club
10.03.22 Bielefeld, Forum
12.03.22 Göttingen, Musa
13.03.22 Dortmund, FZW
17.03.22 München, Backstage
18.03.22 Zürich, Bogen F
19.03.22 Bern, ISC
30.03.22 Frankfurt am Main, Das Bett
31.03.22 Stuttgart, Im Wizemann
01.04.22 Erfurt, Kalif Storch
02.04.22 Dresden, Beatpol
07.04.22 Köln, Gloria
08.04.22 Hannover, Musikzentrum
09.04.22 Berlin, C-Halle
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