Leonie singt
„Horizont“
(Gutfeeling Records)
Es ist eben nur die halbe Wahrheit, dass derzeit alles von diesem doofen Virus überlagert wird und man deshalb über anderes nicht reden könne. Vielmehr scheint die Extremsituation, in der wir ausnahmslos alle stecken, das eher zu verstärken, worüber sich immer und jederzeit zu reden lohnt: Wo wollen wir hin? Was hoffen wir, dort zu finden? Wie sieht es mit unserer Mitmenschlichkeit, unserer Empathie, unserer Empfänglichkeit für die Nöte anderer aus? Wie gut kennen wir einander? Wie stark sind wir und reicht das, um durchzukommen? Fragen, die uns sonst im Unterbewusstsein eher leicht streifen, vielleicht auch ein wenig verunsichern, werden nun existenziell, drängend. Und bringen uns nicht selten aus dem Gleichgewicht.
Wir dürfen davon ausgehen, dass Leonie Felle von der dramatischen Zuspitzung unser aller Leben nichts ahnte, als sie die Lieder für ihr neues, zweites Album geschrieben hat, dennoch passen viele auf den zweiten Blick erstaunlich gut in die heutigen Tage. Dabei gehen die Gedanken nicht nur an die düsteren Zeilen des Eröffnungsstücks, die davon sprechen, dass es keinen Ausweg gibt. Der Titelsong kreist um die Ängste, die einen packen, wenn der Boden unter den Füßen zu schwanken beginnt, der Horizont kippt und wir den sicher geglaubten Halt verlieren. So abgeklärt, so klar hat in letzter Zeit noch selten jemand vom Zweifeln und möglichen Scheitern gesungen, Felle tut das in einer Klarheit und Bestimmtheit, die uns innehalten und staunen läßt.
Nicht zu Unrecht hat sie schon mit dem Debüt, auch dieses in einer Mischung aus deutschen und englischen Texten, auch hier stilistisch vielfältig zwischen Folk, Blues und klassischem Indierock, als weibliche Entsprechung des norddeutschen Grüblers und Grantlers Sven Regener (Element Of Crime) gegolten. Und auch ihre Band, bestehend aus Hagen Keller an Gitarre und Akkordeon, Bassist Jakob Egenrieder und Sascha Schwegeler an den Drums, musiziert auf ähnlich spielfreudige Art – wo dort die Trompete der Melancholie mächtig Vorschub leistet, übernimmt bei Leonie singt eine wunderbare Klarinette in Gastrolle die gleiche Funktion. Und wechselt sich wiederum mit schroffen Gitarren oder zarten Streichern ab, ganz danach, welcher Stimmung Felle gerade folgt.
Wir hören eindringliche Lieder über schwierige Momente und schwere Gedanken, die Zweisamkeit, Liebe oder Freundschaft auf den Prüfstand stellen („Wer weiß das schon“/ „Deine Reise“), trotzigen Eskapismus, in fast kindliche Wunschbilder verpackt („Stummer Fisch“). Lauschen ihren verstörenden Beobachtungen in kantigen Reimen, wenn der „Freund ohne Flügel“ lachend in die Tiefe stürzt und folgen ihr später bereitwillig Richtung „Schwarze Berge“, das Dunkel schleicht sich von hinten an, ist allgegenwärtig, unausweichlich. Und doch haben wir es selbst in der Hand, gibt sie uns eine wohlmeinende Empfehlung: „Halt deine Augen offen, such nach dem Licht“.
Es ist eine schöne Platte geworden. Die Wehmut ist zu greifen, aber sie erdrückt nicht, vieles klingt traurig, aber auch Charme und Witz kommen nicht zu kurz. Nicht alles gelingt perfekt, wie auch – das Cover von „I’ll Be Your Mirror“ wirkt seltsam gehetzt, das Weiche, mit dem Nicos Stimme im Original den Song von Velvet Underground prägt und trägt, vermisst man hier ganz. Wunderbar dagegen die zweite Neubearbeitung, so wie Felle Fugazis „I’m So Tired“ interpretiert, funktioniert das Stück und verliert nichts. Vor zwei Tagen hätte auf der Bühne des Münchner Kabaretts Heppel und Ettlich die offizielle Plattentaufe stattfinden sollen, doch der Konjunktiv hat dieser Tage die Regie übernommen und keiner weiß heute, wann das nachgeholt werden kann. Ein Trost bleibt derweil: Der Horizont daheim ist nur kleiner. Aber er bleibt sichtbar.
02.07. Olching, Haus am See
Update: Bavarian for Lost Highway - das neue Video zu "No Way Out" ist da. Kann man gar nicht oft genug anschauen.
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