Sonntag, 31. Oktober 2021

GEWALT: "Wenn sich nichts bewegt, ist's Scheiße!"

Foto: Patrick Tjorven Stein
„Wenn man sich mit Gewalt nicht auskennt, 
sollte man sich so weit wie möglich davon fernhalten."

Was für ein Satz! Die unfreiwillige Komik bekommt er natürlich erst deshalb, weil der, der ihn sagt, Patrick Wagner, Sänger der Berliner Band Gewalt, ist. Und weil der Satz genaugenommen gar nicht von ihm stammt, sondern an ihn gerichtet ist und zwar von seinem irischen Freund Isaac, ausgesprochen in einer klirrend kalten Winternacht im wilden Osten des Berlins der 90er. Der Nachtbus war den beiden Abenteurern gerade vor der Nase weggefahren und wie es der Teufel (und nur der) so will, begegneten sie auf dem Heimweg einer Horde prügelwilliger Naziskins. Wir wollen nicht vorgreifen, denn den Hergang der Episode mit dem Titel „Wir waren Könige“ erfährt man im Buch „Paradies: Gewalt“, dem Buch also, das Wagner zum Release des gleichnamigen Debütalbums geschrieben hat. Die Texte teils als Ergänzung zu den Songs der Platte, teils als eigenständige, biografische Kurzgeschichten. Schonungslos ehrlich, hart und doch auf ihre Weise auch sehr poetisch, ganz so, wie die Lieder von Gewalt eben funktionieren. Man kann sich eine Auswahl auch im Netz anschauen, kleine Filme kurzer Lesungen an kuriosen Orten, one take adventures mit reichlich Nebengeräuschen, ohne Drama, ohne Schnickschnack und doch mit viel Liebe und winzigen Überraschungen am Rande. Wagner sagt, er müssen das aufschreiben, weil so viel übrig sei hinter den Texten der Lieder, so viel Leben hintendran hängen würde, das aufgeschrieben und wie hier (mit ungewohnt unsicherer Stimme plötzlich) vorgelesen gehöre. Alles muss raus also, wie bei Gewalt eigentlich immer. Fragen deshalb an den Autor, Texter, Sänger, Performer … 

Wie fühlten sich denn die Lesungen bei den Konzerten an?
Ich trete ja bei den aktuellen Konzerten als eigene Vorband auf, lese also vor dem Konzert…

Zwischendrin würde es wahrscheinlich ohnehin nicht funktionieren, wäre der Kontrast wohl zu groß?
Nein, das wäre nicht zu schaffen, auch weil das Lesen ehrlich gesagt ähnlich kraftraubend ist wie die Musik. Grundsätzlich versuche ich, das schon eher ruhig zu machen, aber manchmal geht es auch da mit mir durch. So einen Text wie „Manchmal gehe ich unter Leute“, den habe ich jetzt Wien und Hamburg gelesen und musste beide Male weinen. Das ist okay, das ist dann eben so. Gemerkt hat das wohl keiner, aber mir war sofort klar – ups, da ist er, der Schmerz. Und genauso schreibe ich auch, kucke, wo sich etwas bewegt bei mir und notiere das dann sofort. Wenn sich nichts bewegt, ist’s Scheiße.

Das merkt man auch sehr beim Lesen. Ich denke da nur an die Geschichte „Wir waren Könige“, die mich zum einen etwas an Clemens Meyers „Als wir träumten“ erinnert hat und auch an eine ähnliche Begebenheit, wie ich sie selbst in Berlin zu dieser Zeit erlebt habe …
Ja, das ist ein bisschen so wie eine untold story. Jeder hat ja ein Bild von der Zeit und dem Osten Berlins, von der wilden Clubszene und so – aber eigentlich war das ja ganz anders, eher trist und fast postapokalyptisch. Und das wird irgendwie nie erzählt. Man wusste ja auch nicht, was da los war, niemand im Westen wusste das – und da konnte man sich dem entweder ergeben und sagen: ‚Das ist nichts für mich‘, aber für mich war das was, ich wollte und mochte das.

Auch der Text zu „Deutsch“ vor dem Bundeskanzleramt ist mir sehr im Gedächtnis geblieben …
Entscheidend ist hier natürlich, dass ich mich da selber so reinwerfe. Denn wenn man mal genau draufschaut, ist man halt, wie so oft, selbst der Schlimmste von allen. Es ist ja immer leicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, wir machen das ja alle immer gern. Aber wenn ich auf mich selbst schaue, da sehe ich eben auch so unglaublich viel Enge.



Du hast die Zuhörer*innen/Zuschauer*innen bei der Aufnahme der Kurzfilme an den unterschiedlichsten Orten bewusst die Imperfektion, vielleicht auch manchmal dein Unwohlsein, deine Nervosität spüren lassen, war das Absicht?

Das war wirklich ganz bewusst. Es sollte überhaupt nicht glatt wirken. Es ist ja so, dass man sich bei allem, was man macht – bei mir also die Musik, die Texte, jetzt auch noch das Buch – immer die Frage stellt, warum man das alles macht. Aber diese ganze Aktion, die wir für diese Onlinelesungen da zusammen gemacht haben, an drei Tagen zehn Locations mit diesem total jungen Team, das war superanstrengend, aber eben auch wirklich wunderschön. Und dafür macht man das! Egal, ob das jetzt jemanden interessiert, ob sich das jemand anschaut – diese Momente, die wir da miteinander hatten, sind unbezahlbar.

Die Lust am Ausprobieren war tatsächlich immer spürbar…
Man darf ja auch nicht vergessen, dass es dieses Format sonst nicht gibt, dass man also versucht, die Texte, die man liest, auch noch in die Bilder der Umgebung zu übersetzen. Sonst sieht man ja eher Ohrensessel und Vorleser – aber wir haben uns echt stundenlang Gedanken gemacht, wie man das jetzt in Szene setzen kann. Und dann versuch mal, an einem Samstagabend eine Running-Sushi-Bar zu finden, die erlaubt, dass ich mich mit meinem Anzug da ans Band setze und und laut lese!

Zur Platte selbst: Zählt „Paradies“ denn überhaupt für Euch noch als Debütalbum? Nach so vielen Singles über all die Jahre – hat das dann noch diesen Stellenwert, ist das dann noch so etwas Besonderes?
Das ist unser Debüt, das eigentlich ein Best-Of ist, aber ja, das fühlt sich für uns alle immer noch so an. Und wir sind wahnsinnig aufgeregt, weil wir nicht wissen, ob das jemand mag …

Aber das kann doch jetzt nur Koketterie sein …
… Nein! Wirklich nicht, Null Komma Null! Wir selbst wissen natürlich schon, dass es total großartig ist, selbst die Stücke, bei denen wir uns am Anfang eher unsicher waren. Wir haben ja ganz bewusst in ganz kurzer Zeit die Lieder geschrieben und dann gleich komplett live im Studio eingespielt. So also, dass es auch für uns aufregend ist und nicht alles so klingt wie bei anderen Bands, die lange hinarbeiten und proben. Wir wollten es wie in den Siebzigern mit allem Drumherum, auch dem Gesang, an einem Stück aufnehmen und sind im Nachhinein total glücklich, weil genau diese Energie auch herauszuhören ist.
 

Du schreibst ja in den Notizen zur Veröffentlichung davon, die Platte sei wie das Schiff, das Kinski in „Fitzcarraldo“ durch den Urwald ziehen lässt – wahnwitzig, überfordernd, zügellos. Meint das diese Aufnahme für Dich?
Ja, genau das war die Idee dabei. Dass man sich selber angreifbar macht und nicht einfach nur Dinge im Studio abarbeitet.

Ich lese da auch eine gewisse Sehnsucht nach Planlosigkeit und Kontrollverlust heraus?
Ja, das fehlt mir heute total, das ist für mich eines der wichtigsten Elemente des Lebens. Inzwischen können Menschen nicht einmal mehr miteinander telefonieren, ohne sich vorher dreimal zu überlegen, was denn wohl herauskommt bei dem Gespräch, vom Treffen ganz zu schweigen. Neulich hat ein Freund einfach bei mir daheim an der Wohnungstür geklingelt – und ich war schockiert! Kann man sich kaum vorstellen …

Und da hat die Pandemie sicher noch ein Übriges zu getan ...
Ja natürlich, noch mehr wollen wir vorher wissen, was passiert, was kommt dabei raus, im besten Fall – was kommt dabei für mich selbst raus.

Du hast, das kann man wohl sagen, keine besonders hohe Meinung von der Spezies Mensch und Du nimmst Dich selbst da auch nicht aus?
Es gibt da schon beide Seiten, ich bin in der Hinsicht eher zwiegespalten. Ich liebe den Menschen, und ich versuche ihn auch so zu sehen, dass ich immer wieder naiv und unvoreingenommen auf ihn zugehe. Aber ich werde genauso oft und immer wieder von ihm enttäuscht. Deshalb dann ein Text wie „Stumpfer werden“.



Aber gibt es dennoch Momente, wo Du positiv überrascht, ja vielleicht überwältigt wirst?

Ja schon, beispielsweise beim kreativen Arbeiten, wie vorhin beschrieben, da passieren solche Dinge. Oder die Tage in Wien, wo wir tagelang aufgenommen, viel geredet, viele Menschen getroffen haben. Andere würden sagen, dass das vor allem harte Arbeit ist, aber wir haben das schon auch als Geschenk empfunden, eine sehr intensive Zeit. Das gibt es immer wieder, der Funken glimmt also noch. Wenn man keine Erwartungen hat, geht es einem natürlich besser. Aber man hat sie halt trotzdem …

Und die Enttäuschung gehört dann mit dazu, genauso wie die Freude?
Ja. Ich denke mir, wenn man etwas will vom Leben, muss man halt auch bereit sein, sich reinzuschmeissen, der Typ bin ich eben. Ich habe so was Christoph-Schlingensief-haftes, den Willen, erst mal alle Energie reinzugeben. Und wenn dann nichts zurückkommt, dann ist das so. Und dann tut das weh, aber dann schaust du, was der Schmerz mit dir macht – und schon ist da der nächste Punkt, der interessant ist. Die Alternative dazu ist: Du liegst nur im Bett und kuckst Netflix. Da bist du auf der sicheren Seite, das kannst du ewig machen, kannst dich immer weiter runtergraden und dich dann irgendwann über Squid Games freuen.

Du scheinst mir ein sehr rigoroser Mensch zu sein, sehr klar in seinen Entscheidungen. Gibt es für Dich Sachen, die unverhandelbar sind – nicht nur musikalisch, sondern generell?
Also eines, das ich aus meinen tausend Jahren Leben gelernt habe: Ich möchte nichts mehr mit Idioten zu tun haben. In dem Moment, wenn sich jemand als solcher offenbart – und das geht in der Regel recht schnell – dann bin ich da einfach raus, egal ob er mir etwas bringt oder nicht. Weil ich weiß, dass mich das unglücklich macht. Was die Musik und die Texte angeht, da möchte ich zu keiner Sekunde beliebig sein. Entweder es macht mich glücklich oder verschafft mir eine Gänsehaut, bewegt etwas – oder ich lass es einfach bleiben.

Foto: Patrick Tjorven Stein


Also lieber einen Song weniger als einen schlechten …
Ja, unbedingt. Das ist überhaupt kein Problem. Und das ist dann natürlich auch eine gewisse Arroganz, die man mir gern vorhalten kann. Aber wir schulden als Band überhaupt niemandem irgendwas, nur wir müssen selber glücklich sein.

Deshalb vielleicht auch die Singles als Ausdrucksform?
Möglich. Am Anfang hat uns natürlich jeder gefragt: Warum macht ihr das denn so, seid ihr verrückt? Wenn ihr kein Album habt, dann könnt ihr doch nicht touren. Und wir: Ja, dann touren wir halt nicht. Und am Ende waren wir jedes Jahr weit mehr unterwegs als andere. Und jetzt fragen uns die gleichen Leute: Warum macht ihr denn ein Album, das ist doch gar nicht mehr zeitgemäß? Aber diese Frage interessiert uns gar nicht! Wenn es nach der zehnten Single nicht mehr spannend ist, machen wir halt etwas anderes. Es sind also keine strategischen Überlegungen, die uns zu den Entscheidungen bringen, sondern eher die Überlegung: Was bewegt uns?

Da hilft es natürlich auch, independent, also unabhängig zu sein?
Absolut. Es gibt da keinerlei Masterplan, wir haben uns nichts Spezielles vorgenommen. Das Einzige, was wir als Band versuchen wollen, ist, eine gute, eine außergewöhnliche Zeit zu haben. Weil unser aller Leben in der Regel total langweilig ist – das ist okay, aber die Musik gibt uns die Möglichkeit, daraus für eine Zeit lang auszubrechen. Gerade planen wir beispielsweise eine Tour durch Osteuropa, wir werden also zum Beispiel in Bukarest spielen! Da war ich noch nie. Das ist vielleicht ein bisschen so wie Berlin in den Neunzigern und ich bin mir ganz sicher, dass dort etwas passieren wird.

Ungewöhnlich ist die Platte jedenfalls allemal.
Ja, das fing ja schon mit der Produktion an: Dass sich einer der Top-Leute wie Alexander Almgren aus New York meldet und fragt, ob er was mit uns machen kann, ist ja eh schon unglaublich. Ich habe ihm dann, noch etwas skeptisch, einen Song geschickt und ein paar Stunden später schon kam etwas zurück – und das war richtig gut gemischt. Almgren sagte, er sei mit siebzehn in Berlin gewesen, habe dort ganz viel Beton und eben auch Aphex Twin gesehen und genau daran habe ihn unser Sound erinnert. Und so habe er die Aufnahmen dann klingen lassen. Und ich spür das! Und auch das Cover …


… das aussieht wie eine organische Figur?
Genau, eine organische Figur, die total seelenvoll wirkt, die man aber nicht versteht. Für mich ist das ein Sinnbild für uns alle, so sind wir Menschen, wir raffen gar nichts. Wenn man das Cover dann auseinanderklappt, sieht das so ein wenig wie Hieronymus Bosch aus. Ich meine, Cameron Michel, von dem das Bild stammt, verkauft sonst Bilder und Collagen für richtig viel Geld und dann gibt er uns das einfach, weil ihm gefällt, was wir machen! Da sind wir dann wieder bei dem besagten Funken, bei den positiven Überraschungen. Die neuen Songs scheinen noch härter, noch kantiger, klarer zu sein – mehr Industrial, mehr Elektronik, wie würdest Du ihren Charakter definieren? Das ist total lustig, weil wir das als absolute Popmusik empfinden, ganz hart am Schlager.

Ähh – okay!?

Nee, jetzt mal ernsthaft: Entscheidend ist für mich das Gefühl, dass vor uns sowas noch niemand gemacht hat. Ich denke manchmal wirklich, dass wir diese Musik erfunden hätten! Klar, die dockt schon irgendwo an, in den 80ern, irgendwo bei PIL vielleicht, aber die Art, wie wir damit umgehen, wie wir Musik und Texte zusammensetzen, das ist für mich tatsächlich neu. Wenn ich zum Beispiel Jasmin [Rilke] bei „Manchmal gehe ich unter Menschen“ höre, wie sie singt: “Wir sind mechanisch, wir sind zerbrechlich!“, das hat für mich so viel Stärke …

… da muss ich Dir gestehen, dass ich beim ersten Mal, wo ich das Lied noch ohne Textvorlage gehört habe, immer statt „mechanisch“ komischerweise „McDonalds“ verstanden und es überhaupt nicht kapiert habe!
Haha, da bist du tatsächlich schon der Zweite! Same, same, but different … Aber es ist ja nicht so, dass wir vorher keine Zweifel gehabt hätten. Als wir beispielsweise den Kinderchor für „Stumpfer werden“ eingespielt haben, war uns nicht ganz klar, ob das so funktioniert. Aber wir wollten es dann alle drei eben so haben und jetzt haben wir es live gespielt und die Leute sind einfach durchgedreht.

Ihr seid ja vor allem eine Live-Band. Was muss dort sein, was ist auf der Bühne – mal abgesehen von Deinem Anzug – wirklich unabdingbar?

Also wichtig ist zunächst, dass es kontrastreich ist, schwarz-weiß fast – sehr hell, sehr dunkel. Es muss laut sein und, ganz entscheidend, man muss die Texte verstehen können. Bei vielen Bands ist die Lautstärke der einzige Faktor, aber für uns muss es eben auch verständlich sein, sonst ist es leer und Quatsch. Und tanzen muss man können! So gesehen sind die Anforderungen an ein Gewalt-Konzert schon ziemlich hoch: Man soll es sehen, fühlen, verstehen können, es soll körperlich sein – und eben tanzbar. Viele Künstler picken sich daraus meist eine einzelne Komponente heraus – wir wollen das alles auf einmal haben! In den besten Momenten auf einem Konzert machen die Leute dann die unterschiedlichsten Dinge – schreien, weinen, springen und zwar gleichzeitig, in einem einzigen Augenblick. Und das ist wundervoll!

Das Debütalbum "Paradies" erscheint am 5. November bei Clouds Hill Records, in der Standardversion enthält es zehn neue Songs, in der Deluxe-Box eine weitere Auswahl von elf früheren Stücken/Singles und das Buch "Paradies: Gewalt" von Patrick Wagner, illustriert von der Berliner Künstlerin Fehmi Baumbach. 

Donnerstag, 28. Oktober 2021

Spoon: Lass knattern!

Wenn wir jetzt mal ganz ehrlich sind: Rockmusik im klassischen Sinne ist nicht gerade tot, riecht aber mittlerweile schon etwas streng. Den Indierock in allen Variationen gnädigerweise beiseite gelassen, gibt es nicht allzu viele Bands, die dem Genre noch zu Relevanz verhelfen könnten. The Black Keys vielleicht mit ihrer Spielart des Blues-Rock, die neue Single von Jack White dagegen war dann schon nicht mehr ganz so überzeugend. Aber hey, wir haben ja noch Austin, Texas. Und also: Spoon! Ja, Britt Daniel und Kollegen gibt es sehr wohl auch noch, gleichwohl liegt ihre letzte Studioplatte "Hot Thoughts" auch schon wieder ganze vier Jahre zurück - gut war sie trotzdem. Doch nun ist für den 11. Februar 2022 ihr neues Album "Lucifer On The Sofa" via Matador Records angekündigt. Und für das Video der ersten Single "The Hardest Cut" haben sich die fünf Herren gleich mal ein schönes Story-Board in Tarantino-Zombie-Optik einfallen lassen und die Gitarren knattern ebenfalls sehr schön. Produziert hat die zehn Songs übrigens Mark Rankin (Bloc Party, Adele, Queens Of The Stone Age), überdies gab Daniel zu Protokoll, er habe in der letzten Zeit viel ZZ Top gehört - wir sind sehr zufrieden.



Dienstag, 26. Oktober 2021

Little Simz: Die Mutmacherin [Update]

Little Simz
„Sometimes I Might Be Introvert“

(Age 101/Rough Trade)

Jetzt müssen wir zu Beginn doch ganz kurz mal in die Zukunft und das gemeinsam mit Sibylle Berg. Diese hat ja vor einiger Zeit eine grandiose Dystopie mit dem Namen „GRM“ geschrieben, in der es nur am Rande um Grime geht – die Musik ist hier mehr Trost und Rückzugsort der Protagonisten und weniger Hauptthema des Romans. Namen werden selten genannt, der von Little Simz aus London ist allerdings schon mit dabei. Und weil sie in dieser heraufdämmernden, endzeitlichen Utopie schon zu den Etablierten, den Superstars gehört, sind die Kommentare zu ihr eher zurückhaltend, vielleicht sogar enttäuscht. Wie schnell diese Zukunft Realität werden kann, sieht und hört man nun an dem aktuellen zweiten Album der Künstlerin. An Selbstvertrauen hat es Simbiatu Ajikawo, Spitzname Simbi alias Little Simz aus dem Stadtteil Islington seit Anbeginn ihrer Karriere noch selten gemangelt, das ist gut so und vollkommen berechtigt – insofern ist der Titel der neuen Platte natürlich schon mal einen Extrapunkt wert.



Ihr Debüt „Grey Area“ war ein Meilenstein, schon dort merkte man deutlich, dass sie unbedingt Grenzen weiten, Stile verbinden wollte, ausschließlich Grime war nicht die Lösung. Den Weg setzt sie auf „Sometimes I Might Be Introvert“ konsequent fort, es beginnt orchestral, mächtige Bläser kündigen den Auftritt an und setzen auf beeindruckende Weise den Kurs – weiblich und schwarz, darum kreist das Album, das ist die Klammer, das Anliegen, das später noch um den Wert der Familie ergänzt wird. „I’m a black woman and I’m a proud one“ – die Zeile aus „Introvert“ ist Tatsache und unverhandelbares Statement zugleich, im darauffolgenden „Woman“ fügt sie diesem zusammen mit Dauergast Cleo Sol die entsprechenden Facetten hinzu. Weniger hart dann, sondern mit souligem Groove.



Little Simz beherrscht ihr Fach, als wäre sie schon Jahrzehnte im Geschäft – die stilistischen Wechsel meistert sie mit bewundernswerter Sicherheit, sie sind die herausragende Stärke dieses Albums. Die schnellen Rhymes sind mal eingebettet in weichen, sanft federnden RnB, dann wieder zu harten Beats gesetzt wie bei „Speed“ und „Rolling Stone“, perkussive Elemente wechseln mit musicalhaften Interludes, später wendet sie sich überzeugend und in Begleitung von Obongjayar aus Nigeria dem Afropop zu. Thematisch wird in der Rückschau ihr Weg bis ins Heute nachgezeichnet, gibt es beißende Ironie („The Rapper Came To Tea“ mit Schauspielerin Emma Corin), nachdenkliche Adressen an Männer im Allgemeinen und den Vater im Speziellen (u.a. „I Love You, I Hate You“), Liebeslieder natürlich und vor allem die Mutmacher, die Aufrufe, es ihr gleichzutun, sich nicht unterkriegen zu lassen. Self-Empowerment rules, in der Tat drängen derzeit viele Künstlerinnen mit Talent nach vorne – so schnell so gut wie Little Simz war bisher noch keine.

Update: Der kenianische Filmemacher Jeremy Ngatho Cole (Cleo Sol, Young Fathers) hat ein neues Video für den Song "I Love You, I Hate You" gedreht, in welchem Little Simz die Beziehung zu ihrem Vater thematisiert.



Sonntag, 24. Oktober 2021

PVRIS: Nichts weniger als gewaltig

Okay, das könnte dann doch ganz interessant werden: Als im August die erste neue Single "Monster" der amerikanischen Elektropopband PVRIS erschien, horchte man schon auf - störrische, elektrische Gitarren spotzten zu bösen Beats und erwiesen sich zusammen mit dem Video als passende Kulisse für den grimmigen Text. Nun, ein paar Monate später, wird klar, dass Lynn Gunn nicht locker lassen wird, denn auch der nächste Song "My Way" zeugt vom Kampf mit Erwartungen, von harten Zeiten und ebenso harten Entscheidungen. Und auch wenn noch immer nicht ganz klar ist, wohin das alles führen wird - von einem neuen Album ist bislang noch nicht die Rede - es wird wohl nichts weniger als gewaltig werden.





Freitag, 22. Oktober 2021

Boy Harsher: Der reine Horror

In Sachen Endzeitfantasien haben die beiden sicher einige Erfahrungen, schließlich lassen sich zu ihrer Musik reichlich Bilder heraufbeschwören, die dazu passen: Boy Harsher, Synthpop-Duo aus Massachusetts, konnten spätestens mit ihrem Album "Careful" aus dem Jahr 2019 für Furore sorgen, nun haben sie ein weiteres im Kasten. Und weil Dystopie und Horror nicht allzu weit voneinander entfernt liegen, werden sie ihre nächste Platte als Soundtrack zu einem eigens gedrehten Kurzfilm dieses Genres veröffentlichen. "The Runner", so der Titel des Gruselstreifens, kommt via Nude Television in die Kinos, der Soundtrack erscheint am 21. Januar bei Nude Club und City Slang mit acht Tracks, zum Opener "Tower" gibt es einen sparsamen Visualizer. Sängerin Jae Matthews meint dazu: "We wrote ‘Tower’ several years ago and although it’s evolved over the years, its initial intent remains the same – that feeling of being enveloped, suffocated, entrapped in a relationship, which in turn manifests into reckless attack. What you love the most can make you into a monster. And that’s what this song is about, being a paralyzed fiend."

16.02.  Leipzig, Werk 2
17.02.  Berlin, Astra
18.02.  Frankfurt, Zoom





Mittwoch, 20. Oktober 2021

Bodega: Immer unter Strom

Als diese Band 2018 auf der Bildfläche erschien, gehörten sie mit einem Schlag zum Interessantesten, was Post-Punk aus New York zu bieten hatte. Entsprechend euphorisch wurde "Endless Scroll", das Debüt von Bodega, aufgenommen, entsprechend groß war die Neugier auf Konzerte, der Andrang ebenso. Klar, dass die Erwartungen an das Nachfolgealbum (nach einer Reihe von EP) ebenfalls ziemlich hoch sind - am 11. März kommt "Broken Eqipment" via What's Your Rupture? in den Handel und geht es nach der ersten Single "Doers" (hier mit Flidpside "Top Hat No Rabbit"), dann müssen wir uns um den anhaltenden Hype keine Sorgen machen. Der Song persifliert die allgemeine Umtriebigkeit, das zwangshafte Kümmern, Darstellen, Posen der sogenannten Macher, das eine/n jede/n von uns kirre bis irre werden lässt. 

25.04.  München, Hansa 39
26.04.  Köln, Bumann und Sohn
27.04.  Hamburg, Molotow





NUKULUK: Gegen Langeweile

Manchmal kann man ein Gähnen followed by Maulsperre kaum vermeiden - da lesen wir von Coldplay, die mit einem Haufen kaum flügge gewordener, südkoreanischer Pos(t)erboys dem geschmacklosen Kitsch die nächste Ehre erweisen, da zeigen sich die Rolling Stones völlig unbeeindruckt vom Tod ihres Drummers und wollen es stadiontourtechnisch aber noch mal ganz genau wissen, Lana Del Rey stellt ihre monatliche Platte vor und olle Kanye nennt sich fürderhin Ye. Ach Gottchen, es langweilt brutal. Wie gut, dass es in London noch junge Menschen gibt, die anderes als das Übliche machen wollen. NUKULUK zum Beispiel, ein fünfköpfiges Hip-Hop-Kollektiv unter der Ägide von Produzent und Songwriters Syd Nukuluk. Vor zwei Wochen hat die hibbelige und ziemlich freshe Crew ihre Debütsingle "OOH AH" vorgestellt, nun schieben sie "FEEL SO" nach. Das alles stammt von einer EP mit dem Titel "Disaster Pop", die am 17. November erscheinen soll - wir sind schon mächtig gespannt.



Dienstag, 19. Oktober 2021

Shortparis: Die Interessanteren

Immer ein wenig verstörend, immer ein wenig blutig - Shortparis aus St. Petersburg sind mit einem aktuellen Video zurück. Nachdem in diesem Jahr mit "Yablonny Sad" ihr mittlerweile viertes Album erschienen ist, fanden sich die Mannen um den charismatischen Sänger Nikolai Komyagin auch in den hiesigen Feuilletons wieder und konnten sich so - um im neoliberalen Sprech der Zeit zu bleiben - neue Käuferschichten erschließen. Von besagter Platte stammt nun auch der Song "Lyubov moya budet tut", dessen Video in Eigenregie der Band entstanden ist - weitere Stücke finden sich in einem früheren Post. Das Material zusammengenommen sollte dann auch klar sein, dass hier allemal mehr Potential dahintersteckt als beispielsweise bei den südkoreanischen Milchbubis, nur hat das eben Chris Martin noch nicht mitbekommen. Oder sollten wir besser sagen: Zum Glück?



Donnerstag, 14. Oktober 2021

Egyptian Blue: Angstgetrieben

Neues aus Brighton: Das Post-Punk-Quartett Egyptian Blue, in den letzten Jahren mit einer Reihe EP aufgefallen, plant für die nächste Zeit die Veröffentlichung eines Debüts im Langformat. Wann genau das sein wird, darauf hat sich ihr Label YALA! noch nicht festgelegt, wohl aber auf die Veräußerung einer ersten Vorabsingle mit Namen "Salt". Zu dessen Entstehungsgeschichte wiederum erklärt Sänger Andy Buss bei DIY: "The song came from a series of anxiety dreams containing monotonous behaviours that felt like walls closing in. That sense of chasing my own tail. Jumping into the dark pit of the pandemic only served to heighten this".

Sea Power: Naheliegende Verkürzung [Update]

Es ist beileibe nicht das erste Mal, dass eine Band ihren Namen ändert, weil die Zeiten nicht die selben geblieben sind und nun, im neuen Licht betrachtet, ein Beigeschmack hinzugekommen ist, auf den man nicht ständig hingewiesen werden möchte, der einen unter einen gewissen Rechtfertigungsdruck setzt. So geschehen in jüngerer Vergangenheit mit der kanadischen Gruppe Viet-Cong, die sich 2015 einfach in Preoccupations umbenannte, im vergangenen Jahr hatten selbst die Dixie Chicks genug und wollten fürderhin nur noch unter The Chicks firmieren. Die Kapelle British Sea Power aus Reading hatte sich, so liest man, schon länger mit dem Gedanken getragen, eine Kürzung vorzunehmen - das Erstarken von Nationalismus und Populismus im Zuge des unsäglichen Brexits hat sie nun den Schritt endgültig vollziehen lassen und so wird auf dem nächsten Album "Everything Was Forever" nur noch Sea Power vermerkt sein. Die erste Single "Two Fingers" wiederum ist von Albtraumgestalten des amerikanischen Autors HP Lovecraft bevölkert, einem so berühmten wie umstrittenen Manne, der nicht nur bedeutende Bücher geschrieben hat, sondern wohl auch ein gnadenloser und unausstehlicher Rassist war. Die neue Platte jedenfalls soll als Nachfolger von "Let The Dancers Inherit The Party" (2017) am 11. Februar 2022 erscheinen. 

Update: Und wir haben mit "Folly" einen weiteren Song von den Rückkehrern.  



Emma Ruth Rundle: Immer ein Ereignis [Update]

Keine Gitarren diesmal, nur ein Piano. Aber was heißt hier "nur"? Wenn Emma Ruth Rundle die Bühne betritt, dann ist das unabhängig vom Instrumentarium immer ein Ereignis. Das war beim letzten Studioalbum "On Dark Horses" so und ebenfalls beim gemeinsamen Projekt "May Our Chambers Be Full" mit der amerikanischen Metalband Thou. Wie sich nun das gerade angekündigten Solowerk "Engine Of Hell", VÖ 5. November bei Sargent House, anfühlen wird, wissen wir noch nicht, die erste Auskopplung "Return" zieht einen aber sofort in den Bann. Sie selbst sagt in den Linernotes dazu: "Here are some very personal songs; here are my memories; here is me teetering on the very edge of sanity dipping my toe into the outer reaches of space and I’m taking you with me and it’s very fucked up and imperfect." 

Update: Hier kommt mit "Blooms Of Oblivion" der zweite Song vom Album, das Video hat die Sängerin gemeinsam mit John Bradburn gedreht.




Marissa Paternoster: Ohne Illusionen

Das klingt jetzt nicht nach der klassischen Friedenstaube, eher nach einem ziemlich zerstörten Vogel: Marissa Paternoster, Sängerin der Screaming Females, hat mit der Ankündigung des ersten Soloalbums unter ihrem Namen die Single "White Dove" geteilt. Und wenn man sie im Video mit trübem Blick und ziemlich derangiert im feierlichen Kleid über einen Friedhof laufen sieht, wie sie von einer weißen Taube mit blutgetränkten Flügeln singt, dann hat das etwas ziemlich Desillusioniertes, Deprimierendes. Die nachfolgenden Songs auf der Platte heißen dann im Übrigen "Black Hole" und "I Lost You" und man kann sich denken, dass auch diese nicht gerade vor Fröhlichkeit bersten. Macht nix, Paternoster war schon bei ihrer Band als eindrucksvolle und emotionale Persönlichkeit in Erinnerung, dem Solo wird das ebenfalls gut tun. Entstanden ist dieses gemeinsam mit Andy Gibbs von der Metalformation Thou und Produzent Eric Bennett, mit dabei außerdem Shanna Polley und Cellistin Kate Wakefield - am 3. Dezember erscheint "Peace Meter", so der Titel, bei Don Giovanni Records.



Mittwoch, 13. Oktober 2021

Bambara: Alles muss raus!

Was soll man sagen - selbstbewußt ist er ja. Reid Bateh, Sänger der amerikanischen Band Bambara, ließ sich für das Cover des neuen Mini-Albums "Love In My Mind" einfach mal en face mit weit ausgeschnittenem Hemdkragen fotografieren, eine Sache, die sich außer Hugh Grant eigentlich nur wenige Männer trauen. Aus Gründen. Nun ja, Geschmäcker sind bekanntlich verschieden, wichtiger ist ja, dass Bambara tatsächlich neu angreifen, nachdem sie wie viele andere ihr letztes Album ("Stray", 2020 auf Wharf Cat) kaum promoten und schon gar nicht live bespielen konnten. "Mythic Love", die erste Single, scheppert dann auch mächtig los, weitere fünf Stücke werden noch folgen, darunter, wie man liest, auch Gesangsduette mit Bria Salmena (Orville Peck/Frigs) und Drew Citron (Public Practice) - am 25. Februar geht alles raus.

17.03.22  Hannover, Cafe Glocksee
18.03.22  Berlin, Urban Spree
21.03.22  Hamburg, Hafenklang
25.03.22  Haldern, Haldern Pop Bar UG
28.03.22  Köln, Bumann und Sohn



Baxter Dury: Ausnahmeerscheinung

Was für ein schöner Titel! Und was für ein toller Kerl - immer noch! Baxter Dury, von dem wir hier reden, hat wohl Zeit seines bisherigen Lebens immer etwas an dem Schatten seines berühmten Vater kauen müssen - Grund dafür gab es eigentlich keinen, denn als er zur Jahrtausendwende damit begann, eigene Soloplatten zu veröffentlichen, war schnell klar, dass er sich in keinster Weise verstecken muss. Seine Musik war immer zu gleichen Teilen verführerisch, diabolisch und subversiv, der Mann konnte im Maßgeschneiderten durch Casino, Nobelabsteige oder Gosse ziehen und machte doch immer eine gute Figur. Vor einem Jahr erschien sein wunderbares Album "The Night Chancers", nun hat er eine veritable Hitcompilation angekündigt - und zwar unter dem Namen "Mr Maserati 2001 To 2021", hach! Darauf finden sich Stücke seiner bislang sieben Studiowerke bis hin zum Debüt "Len Parrot's Memorial Lift" aus dem Jahr 2002. Und ein neuer Song namens "D.O.A" - die Idee dazu kam Dury, so schreibt er, während des Lockdowns, als sein Sohn Kosmo die Playlisten füllte. Darauf fanden sich dann also Stücke von Frank Ocean, Kendrick Lamar und Tyler, The Creator - "They’re embracing everything – sexuality, politics, all of it – and I find that inspiring." Alles zusammen am 3. Dezember bei Heavenly Recordings.



Sleaford Mods: Seltenheitswert

Auch wenn sich Jason Williamson und Andrew Fearn so gut miteinander verstehen, dass man manchmal meint, die beiden von den Sleaford Mods seien Brüder - sind sie natürlich nicht. Phil und Paul Hartnoll von einem anderen britischen Duo, Orbital nämlich, sind sehr wohl Geschwister, seit dem Ende der 80er setzen die beiden wegweisende Akzente in Sachen Techno, Trance und House (letztes Album "Monsters Exit" 2018). Und just am heutigen Tag haben Orbital den Remix von "I Don't Rate You", einem Track des aktuellen Mods-Albums "Spare Ribs" vernetzt. Was nicht nur eine überaus erfreuliche Sache ist, sondern auch eine kleine Rarität. Denn so gern Williamson sich zu anderen Künstlern ins Studio gesellt, so selten lassen die Mods Hand an ihre eigenen Songs legen. Deshalb gehört natürlich auch das Rework desselben Tracks aus den Händen von extnddntwrk, dem Moniker von Fearn selbst, mit zum Pflichtprogramm.



Sonntag, 10. Oktober 2021

Nalan: Viele Gesichter

Man kennt sie also, auch wenn man sie so nicht kennt: Als vor zwei Jahren das Debütalbum der Gaddafi Gals erschien, waren nicht nur die Kritiken hierzulande übereinstimmend euphorisch, es fiel vor allem auf, dass die vier Künstler*innen auch international punkten konnten. Was sich dieses Land wiederum gern ans Revers heftet, macht sich immer gut in Sachen Integration und Reputation. Naja. Nalan Karacagil muss sich diese Gedanken nicht machen, sie ist ohnehin unter mehreren Identitäten unterwegs - mit Band, als DJane alias Slimgirl Fat und seit längerer Zeit auch solistisch. Zunächst gab es erste Arbeiten unter dem Pseudonym Nalan381, 2018 die EP "Ugly" und nun soll im Dezember "I'm Good. The Crying Tape" erscheinen. Viel Material also, das man sich zusammensuchen kann - lohnenswert ist es alles. Vom Longplayer liefern wir hier jedenfalls neben der bereits bekannten Single "I'm Good" auch die aktuelle "Sorry" mit, Trennungsgedanken, eingebettet warmen RnB-Sound und ihre wunderbar weiche Stimme. Produziert hat beide Stücke im Übrigen walter p99 arke$tra, mit dem sie schon diverse Male (s.u.) zusammenarbeitete.







VLURE: Der passende Moment [Update]

Ganz ehrlich - einen Song mit diesem Titel genau heute, genau jetzt, das ist schon eine beängstigende, schicksalshafte Fügung. Weil aber nicht davon auszugehen ist, dass sich die schottische Gothrock-Band VLURE näher mit den Irrungen und Wirrungen der deutschen Politik beschäftigen, posten wir ihre Single "Shattered Faith" ganz einfach deshalb, weil die Bilder so schön vintage wirken und die Posen so herrlich überdreht. Bringt allemal Ablenkung im schnöden Alltag, war aber sicher genauso ernst gemeint, wie wir in anderem Zusammenhang geunkt haben. Oder - mit ihren eigenen Worten: "The story itself is about running from your inner demons, it's a response to strife, to desire and life. Shout to Ophidian the snake for being sound and not flying for us." 2020 in ihrer Heimatstadt Glasgow gegründet, gab es bislang von Hamish Hutcheson (Gesang), den Brüdern Conor Goldie (Gitarre) und Niall Goldie (Bass), Alex Pearson (Keyboards) und Schlagzeuger Carlo Kriekaarderst ein Tondokument für einen größeren Zuschauerkreis zu hören, die Single "Desire" teilen wir denn auch hier zusammen mit der neuen und warten auf weitere Treffer.

Update: Mit geschorenem Schädel, flackerndem Licht und irrem Blick wirkt das Video zur neuen Single "Show Me How To Live Again", ihrer ersten Veröffentlichung bei So Young Records, gleich noch ein Stück beeindruckender.




Orton: Den eigenen Weg finden [Update]

Weil wir erst kürzlich über Shoegazing sprachen: Für Ende Oktober ist bei Phlexx Records diese schöne 12" angekündigt - "Sparring" der Name, stammt sie von einem jungen Mann namens Will Crumpton aus Nottingham, der unter dem Alias Orton gerade mit der Single "Your Way" debütiert. Der Song wird einer von fünf Tracks der besagten EP sein, deren Stücke mit einer Reihe von Livemusikern in mehreren Studios seiner Heimatstadt entstanden sind, final abgemischt hat sie Alex Wharton (My Bloody Valentine, Radiohead, Portishead) in den Londoner Abbey Road Studios. Crumpton zu seinem Start in den Linernotes: "I wrote 'Your Way' earlier this year after being on universal credit for a couple of months at the time. I had a lot of people giving me their take on what I should be doing with my life and this song explains the struggle of finding my own way during the time and going forward. It goes deep into ideas and expectations both growing up and being an adult, how you’re expected to fit into some sort of system. This was the changing point for me as I began to realise advice is just advice, if you think you have a better idea then do it."

Update: Nicht weniger gelungen - hier kommt mit "Amongst Us" die zweite Auskopplung aus der EP.



Freitag, 8. Oktober 2021

Isolation Berlin: Fluchtgedanken

Isolation Berlin
„Geheimnis“

(Staatsakt)

Nun, das könnte jetzt doch schwierig werden. Lockdown kein Thema gerade, neue Platte endlich draußen, Tourtermine gefixt. Und dann das: „Ich zieh' mich zurück, Stück für Stück, in mein Schneckenhaus. Noch ein letzter Blick, ich schaue mit Schrecken raus … Ich komme hier nie wieder raus, lass' die Rollos runter und stelle mich tot“, so singt nun also Tobias Bamborschke. Jetzt, wo vieles wieder zu gehen scheint, wo die Clubs geflutet und die Konzerthallen vorsichtig gefüllt werden, bläst der Kopf der Berliner Band zum Rückzug, machen Isolation Berlin mit ihrem neuen, dritten Album eine regelrechte Fluchtplatte. Aber keine über die Flucht nach vorn eben – sondern eher nach drinnen: „Ich zieh' mich zurück, schließe mich ein, schließ' euch aus“. Bamborschke wird, so hoffen wir, den Widerspruch aushalten, er ist schließlich Künstler genug und braucht nicht nur die Studiowände, sondern auch die Bühnenbretter, braucht die Bestätigung, die Rückkopplung aus dem Publikum. Und doch.



Fällt auf, dass er vor drei Jahren noch so gierig nach dem nächsten Kick verlangte – heute dagegen zieht es ihn weg, macht er zu, schottet sich besser ab. „Ich hab private Probleme, für die ich mich schäme, doch ich will nicht darüber reden“, so singt er an anderer Stelle und das klingt nicht so, als wolle er sich auf die öffentliche Couch legen oder als suche er ein klärendes Zwiegespräch, einen Austausch. Was jetzt, die Vermutung liegt nahe, auch damit zu tun haben könnte, dass heutzutage jede und jeder ihren/seinen intimsten Kummer in die sozialen Netzwerke hineinjammert, als sei gerade dort nicht nur Häme, sondern Hilfe zu erwarten. Flucht also: In geträumte Identitäten, zum Beispiel die von Nina Hagen. Der Elterliche Plattenschrank hat ihm vor Zeiten die Begegnung der dritten Art verschafft, seitdem verehrt er die Frau, die oft als Spinnerin und Ufotante verschrien und belacht worden ist.



Flucht vor – wir ahnen es nur, deuten hinein – Erinnerungen, unschönen Erlebnissen aus Kindheit und Jugend, wo Träume und Wünsche nicht zum vorherrschenden Männlichkeitsideal passen wollten (schön überzeichnet vom Lippenstift auf den Pressebildern) und in wüste Gedanken mündeten: „Ich wünschte alle wären tot oder wenigstens ein bisschen netter“ („Ich hasse Fußballspielen“). Fluchtgedanken auch in Stellvertretung – die „Klage einer Sünderin“ führt sie mit Blut an den Händen direkt in die erlösenden Fluten der See, die kruden Fantasien treiben den Wutbürger mit Faust in der Tasche in die Verzweiflung (ganz toll: „Stimme Kopf“), der Verlassene, Vereinsamte zeichnet die Dämonen der Nacht auf‘s Papier in der Hoffnung auf Linderung oder Erlösung. Alles passiert hier im Kopf, scheint eingeschlossen, gnadenlos präsent. Bamborschke entwirft das Bild eines gepeinigten Sonderlings, der, auf sich selbst zurückgeworfen, die Ruhe herbeisehnt und zugleich hasst wie nichts sonst.



Das „Geheimnis“ bleibt er schuldig, wir wissen nur, dass es dunkel und tief verborgen in seinem Hirn tobt. Positives, Erfreuliches dagegen hören wir nur selten auf diesem Album. Ganz zu Beginn vielleicht, da scheint sie kurz auf, die große Liebe, die über allem ist, die als einziges zählt. Und trotzdem steht er am Ende mit hängenden Schultern im leeren Saal, „Enfant Perdu“, da ist schon alles vorbei, die Show, der Erfolg, das Leben sogar. Das alles ist nicht angenehm zu hören, großartige Songs sind es dennoch geworden. Auch weil er sie zu präsentieren versteht, emotional, mal schreiend, mal wispernd, mal trotzig, mal matt. Mit einer Band, die das wunderbar zu illustrieren weiß, die die wenigen Höhen und vielen Tiefen mit ihm spielerisch auslotet. Und wer weiß, vielleicht wird ja doch noch etwas gut – wenn man ihn einfach lässt: „Ich will nicht wissen, was ich besser machen kann“, heißt es in „Enfant Terrible“, aber dann auch: „Ich werd mich ändern, wenn ich kann, ich werd mich ändern, irgendwann.“

Donnerstag, 7. Oktober 2021

The KVB: Die Welt in Flammen [Update]

Gerade erst hatten W.H. Lung mit einer neuen Single die glorreiche Historie ihrer Heimatstadt Manchester beschworen, da kommt auch schon die nächste Band um die Ecke, um exakt das Gleiche zu tun. Denn: The KVB, also Kat Day und Nicholas Wood, haben nach ihrer letzten Studio-EP "Submersion" (2019) einen ersten Song veröffentlicht. "World On Fire" steht in der klassischen Rave-Tradition ihrer Heimat, zum Inhalt des Tracks äußern sich die beiden in einem Statement wie folgt: "'World On Fire' wurde Ende 2019 geschrieben und befasst sich im Kern mit der Dualität bestimmter Phrasen wie ‚set the world on fire‘, die zerstörerisch klingen, aber eben auch etwas Bemerkenswertes beinhalten. ... Im Laufe der Zeit sind wir alle gegenüber schlechten Nachrichten und schrecklichen Ereignissen via TV und soziale Medien desensibilisiert worden. Wenn heute viele Leute abbremsen, um einen Autounfall zu begaffen, dann fühlt es sich an, als ob wir alle immer mehr davon besessen sind, die Welt in Flammen zu sehen." Die Single ist heute bei Invada Records erschienen, gut möglich, dass bald mehr Informationen folgen.

Update: Jetzt also doch - mit der nächsten Single "Unité" folgt auch die Ankündigung eines neuen Albums, "Unity" soll am 26. November erscheinen.





Mittwoch, 6. Oktober 2021

Big Thief: Das ganz große Ding

So, dann wollen wir hier mal schnell updaten, denn Big Thief aus New York und im Speziellen deren Sängerin Adrianne Lenker gehören noch immer zu unseren Lieblingen: Vor einigen Wochen gab es ja von dem Quartett schon neues Material zu hören, die Singles "Little Things", "Sparrow" und "Certainty" erschienen und heute zeigt sich, dass alle Hoffnungen auf eine weitere Studioplatte gar nicht so verkehrt waren. Für 2022 haben die vier nämlich nicht nur ein paar Konzerttermine angekündigt, sondern auch ein Doppelalbum - allein sein Name fehlt uns noch. Dafür gibt es Vorabsong Nummer vier mit dem Titel "Change" zu hören, so lässt sich das Warten besser aushalten. Es sei auch noch erwähnt, dass Big Thief zum LineUp des neuen Berliner Festivals Tempelhof Sounds gehören, neben Bands wie Interpol, den Idles, den Fontaines DC und Sophie Hunger.

09.02.  Zürich, Kaufleuten
10.02.  München, Café Muffathalle
13.02.  Berlin, Huxleys Neue Welt
16.02.  Hamburg, Fabrik
18.02.  Köln, Live Music Hall
10.-12.06.  Berlin, Tempelhof Sounds







Dienstag, 5. Oktober 2021

Figure Of Speech: Right here, right now

Figure Of Speech 
„Figure Of Speech?“ 
(Bandcamp) 

Eines der wenigen Probleme bei Independent-Produktionen ist der Umstand, dass man sich für Informationen gelegentlich ganz schön strecken muss. Insbesondere, wenn man nicht eben um die Ecke wohnt. Beispiel Figure Of Speech: Die main facts zu diesem spannenden Projekt werden einem selbst im allwissenden Netz nicht gerade auf dem Silbertablett serviert. Dass sich als treibende Kraft der Grafiker Derek Edwards aus Bristol dahinter verbirgt, ist schnell klar, alles Weitere erschließt sich Stück für Stück wie bei einem Puzzle. Eine zentrale Rolle übernimmt dabei Black Lives Matter – aus Anlass des von dieser Bewegung mitinitiierten, vielbeachteten Sturzes der Edward-Colston-Statue in seiner Heimatstadt schrieb Edwards ein Gedicht, dass wiederum Scott Hendy alias Boca 45, ebenfalls in Bristol wohnhaftem DJ und Labelgründer, zu Ohren kam. Schwer begeistert von der Wirkkraft dieses Textes, so berichtet Hendy, suchte er den Kontakt zu Edwards, wenig später schon arbeiteten die beiden an den ersten Tracks, die nun mit etwas Verzögerung als Verbindung der musikalischen Skills des einen und der Wortgewalt des anderen auf dem vorliegenden Debüt erscheinen. 

Schon mit der ersten, vor einigen Wochen vorausgekoppelten Single „Stand Firm“ kam Edwards unmissverständliche Ansage zum eigentlichen Anliegen des Albums: „This is an anti-racist-album“. Und so reflektieren denn die insgesamt fünfzehn Tracks alltägliche Erfahrungen und Demütigungen mit/durch strukturellen Rassismus, Edwards zieht den Spannungsbogen seiner Betrachtungen aus dem Alltag seiner Heimatstadt bis hin zur generellen Lebenssituation farbiger Menschen weltweit. Kämpferische Töne natürlich, wo Frustration und Wut gleichermaßen durchklingen, aber auch fast szenische Aufbereitungen wie der Vortrag zu schwarzem Selbstverständnis bei „Mistaken Identity“ oder die Aneinanderreihung von Vorurteilen und Beschwichtigungen weißer Meinungsmacher in „Get Over It“. Wieder an anderer Stelle wird die emotionale Rede des Cricket-Stars Michael Holding eingespielt, der in einem Interview anprangerte: „History is written by the people who do the harm, not by the people who are harmed. We need to go back and teach both sides of history. Until we do that and educate the entire human race, this thing will not stop.“

So beeindruckend die Lyrics, so überraschend der Sound: Schon nach wenigen Minuten ist man in der Erinnerung bei den Veröffentlichungen des Kunstkollektivs Sault aus London, die mit Vielseitigkeit und Facettenreichtum schon 2020 quasi die komplette schwarze Musikhistorie auf ihren Alben Revue passieren ließen – Ähnliches gelingt hier auch Edwards und Hendy, allerdings in deutlich kleinerer Besetzung. Flirrender Afropop, Fusion Jazz, Soul, RnB, Hip-Hop. Oldschool-Rap-Einlagen Marke De La Soul wechseln mit klassischem Bristol-Sound á la Massive Attack, Boca 45 hat hier mit seinem Ideenreichtum tatsächlich ganze Arbeit geleistet. Ein Beweis also, dass mit den richtigen Leuten zur richtigen Zeit am richtigen Ort durchaus Erstaunliches gelingen kann. Mit diesem Hinweis schließt sich übrigens auch ein Kreis zu Edwards Aktivitäten. Er gehört nämlich (neben der Arbeit für seine eigene Agentur Patwa) zu den Mitbegründern der Online-Lernplattform Bridging Histories, die es sich zum Ziel gemacht hat, Möglichkeiten und Inhalte unabhängig von Alter, Bildungsstand, Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht zu fördern und zu vernetzen. Ein eindrückliches Beispiel für den Sinn und die Notwendigkeit solcher Anstrengungen hat er mit seinem Debütalbum gerade selbst abgeliefert.

Freitag, 1. Oktober 2021

Public Service Broadcasting: Liebeserklärung

Public Service Broadcasting
„Bright Magic“

(Play It Again Sam)

Auch wenn es das Ganze erst mal auf eine ziemlich alltägliche Stufe herunter zieht: Zu Berlin hat eigentlich jede und jeder eine Meinung. Wenn das Wetter im Small Talk nichts mehr hergibt und die üblichen Floskeln aufgebraucht sind, kann man immer noch – je nach Gusto – über die Hauptstadt spotten, schimpfen oder schwärmen. Auf der Hitliste der Allerweltskommentare ganz vorn rangieren so Sachen wie „Zum Urlaubmachen ist es ja toll, aber leben möchte ich da nicht“, „Da hat’s mehr Schwaben als in Stuttgart…“, „Im Winter ist es nicht auszuhalten!“ oder „Das alte Flair ist doch eh schon komplett weggentrifiziert…“ Ganz nebenbei gibt es kaum etwas, was die Einwohner*innen der Stadt (auch wenn sie selbst ein durchaus zwiespältiges Verhältnis zu ihrem Kiez haben) mehr aufregt, als dass ihnen alle und immer ungefragt die Meinung zu ihrer Stadt meinen mitteilen zu müssen, ganz so, als wäre man ein wandelndes Trip-Advisor-Portal, wo aller Unsinn rund um die Uhr hineingerufen werden dürfte.

Ein Album wie „Bright Magic“ von der Londoner Formation Public Service Broadcasting ist da eine wahre Wohltat, denn es funktioniert auf ganz gegenteilige Art – wohlwollend, kunstvoll, klug und vor allem maximal unaufdringlich. Anders als beim Film, wo jeder sein „Berlin Alexanderplatz“, „Babylon Berlin“, „Kinder vom Bahnhof Zoo“, „Himmel über Berlin“ oder „Victoria“ sofort parat hat, ist das Feld in Sachen Popkultur meets Berlin-Hommage nun nicht gerade unübersichtlich sortiert. Ein bisschen Hass und ebenso viel Love in Liedform neueren Datums gibt es wohl, aber monothematische Platten sind abgesehen von den gut abgehangenen Standards der Herren Reed, Pop und Bowie eher Mangelware (und endgültig nein, Pink Floyds „The Wall“ hat mit Berlin nun wirklich nicht viel zu tun). Insofern ist das, was J. Willgoose, Esq. mit Band hier anbietet, schon eher eine Seltenheit.



Es gibt in diesem so sorgfältig wie liebevoll arrangierten Werk eine derart große Anzahl von Querverweisen, Referenzen und Zitaten, dass man sich schon nach wenigen Augenblicken wie in einer Zeitkapsel zu fühlen beginnt, die über einer sich ständig verändernden Animation die Zeitachse entlang zu schweben scheint. Töne, Geräusche, Bilder bauen Stimmungen auf, beleuchten Vertrautes und holen Unbekannteres hervor. Informativer als die Redakteure von FM4 könnte man das alles kaum aufschreiben, weshalb wir an dieser Stelle einfach auf den dortigen Exkurs verlinken. Erwähnt werden soll natürlich trotzdem, dass der Sound der einzelnen Tracks einen immer wieder an anderer Stelle packt und ein jedes Mal auf’s Neue fasziniert.



Seien es Blixa Bargelds Betrachtungen eines kalten, modernistischen und wuchernden Molochs („Der Rhythmus der Maschinen“), die natürlich Erinnerungen an Fritz Langs meisterhaften Streifen „Metropolis“ evozieren, seien es die beiden Gastspiele von Anna Lena Bruland alias EERA, die bei „People Let’s Dance“ die Historie der legendären Berliner Clubkultur mit Dschungel, WMF, Tresor bis hin zum Berghain Revue passieren läßt und dabei von ein paar Takten Depeche Mode begleitet wird. Kurz darauf wird ihre Stimme dann zart und weich, wenn sie die Verse zu „Gib mir das Licht“ in das wohlige Dunkel sanften Jazzpops taucht. Ein ebenso bemerkenswerter, wenn auch gänzlich anderer Auftritt gelingt Andreya Casablanca – die Frontfrau der Berliner Band Gurr gibt zu kratzigen Gitarren ihre Interpretation von Marlene Dietrich in „Blue Heaven“.



Der Höhepunkt dann ganz zum Schluss („Ich und die Stadt“), hier liest Schauspielerin Nina Hoss das Gedicht „Augen in der Großstadt“ von Kurt Tucholsky zu sparsamen, wabernden Synth-Klängen. Willgoose Esq. dazu in den Linernotes: „Auch wenn man Deutsch nicht versteht, ist es ein wundervolles Gedicht, allein vom Rhythmus her. Er fasst für mich fast alles zusammen, was ich in meiner Zeit in Berlin erlebt habe. Diese flüchtigen Momente, die unvorhergesehenen Begegnungen und Zufälle, die alle deine Geschichte ein wenig ändern können. Und bevor du er merkst, ist alles vorbei und wird sich so nie wieder ereignen. Der Song drückt die Melancholie, aber auch die Dankbarkeit aus, dass ich all diese Erlebnisse haben konnte und es ist ein Glück, dass ich dieses wunderschöne Gedicht gefunden habe, um meine Berlingeschichte und das Album zu einem wunderschönen Ende zu bringen.“ Eine Liebeserklärung zum Anhören, für Berliner*innen und solche, die die Stadt nur flüchtig kennen und irgendwie trotzdem mögen.

Glowie: Mission Neustart [Update]

Pop ganz ohne Melancholie, dafür mit viel Power kommt gerade von Glowie. Die isländische Künstlerin, wir erinnern uns, legte 2018 mit dem Song "Body" einen wahrhaften Raketenstart hin, es folgten weitere feine Singles, ein Album gab es leider nicht. Dafür leider viel Ärger mit dem Majorlabel, dem sie mittlerweile entkommen ist und nun independent arbeitet. Dem Selbstbewußtsein hat der Rummel offensichtlich nicht geschadet, "Thowback" ist das, was man einen banger nennt, hier wird die Rückkehr an die Spitze mit fetten Beats und ordentlichen punchlines zelebriert. Wollen wir hoffen, dass sie diesmal mehr Zeit hat, ihr Talent ausführlich zur Geltung  zu bringen.

Update: Wie man ein ernstes Thema in einen tollen Popsong verpackt, zeigt sie uns mit der zweiten Single "ADHD" - kleiner Mutmacher für Eltern und Kinder mit ähnlichen Problemen.