Sind sie wirklich so unzeitgemäß, wie viele uns glauben machen wollen? Oder sind Musikalben nicht vielmehr noch immer die hohe Kunst, an der sich die Meister*innen von den Schüler*innen scheiden? Gerade läuft ja auf Disney+ die sehr sehenswerte Dokumentation von Peter Jackson über die letzten Tage und Wochen der Beatles, die eigentlich keine Dokumentation im eigentlichen oder vielmehr gewohnten Sinne ist, sondern vielmehr ein so dramatisches wie unterhaltsames Musikschauspiel in mehreren Akten starring George, Paul, John und Ringo. Und zugleich ein geniales (und recht anspruchsvolles) Lehrstück über den Prozess des Zustandekommens ebenjener höchsten musikalischen Gattung, der Langspielplatte (altdeutsch für: Album, in diesem Falle eben "Let It Be"). Dass diese noch immer sehr nachgefragt ist, durfte im Herbst ja spüren, wer dem schwarzen oder bunten Vinyl huldigt, denn weil Ed Sheeran und Adele die Presswerke okkupierten, gab es an anderer Stelle unangenehme Engpässe zu beklagen. Aber egal, am Schluss steht wieder eine Großzahl vorzüglicher Werke auf der Endabrechnung, der diese subjektive Liste hier nur ungenügend Rechnung tragen kann - es bleibt eine lückenhafte Auswahl und das ist die eigentlich gute Nachricht.
25
Tindersticks
"Distractions"
Niemand würde wohl bestreiten wollen, dass die Tindersticks aus der tiefsten Dunkelheit kommen und sich dort auch am wohlsten fühlen. Stuart A. Staples, deren Sänger, hat aus seiner Verehrung für Ian Curtis und Joy Division nie ein Hehl gemacht, schließlich hatte die Formation aus Nottingham mit dem fabelhaft schiefen „Jism“ ihr „Decades“ schon auf dem Debüt vorgestellt – mehr Ehrerbietung geht kaum. Und auch wenn sich in der Folge die klanglichen Wege trennten, auch wenn die Tindersticks nicht im Jammertal verharrten, sondern die Lust am gemeinsamen Musizieren in verschiedenste Richtungen trieben, der Hang zur Düsternis ist ihnen geblieben. Und so verwundert es nicht, dass auch das neue Album – das dreizehnte nach offizieller Zählung immerhin – trotz einiger Überraschungen ganz gern im Halbschatten und Zwielicht verbleibt ... [
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Madlib
"Sound Ancestors"
So genial diese Art von Musik auch ist, sie birgt – zumindest für uns Normalsterbliche – auch ein nicht zu unterschätzendes, erhebliches Frustrationspotential. Man kennt das im Übrigen auch von der oft als ebenso lebensnotwendig erachteten Literatur. Wer hatte nicht auch schon diesen ernüchternden Moment, wo er/sie feststellen musste, um wievieles die Menge an vorzüglichen Büchern, die in früheren Jahrhunderten, Jahrzehnten oder eben gerade erst geschrieben worden sind, die Zeit übersteigt, die man selbst zur Verfügung hat, um sie alle zu lesen. Selbst wer sich eremitenhaft seiner Umwelt und ihren sonstigen Verführungen respektive Störungen zu entziehen vermag, wird das alles nicht bewältigen können. Es ist, wie gesagt, äußerst frustrierend ... [
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23
Matt Berninger
"Serpentine Prison"
Ja, mit den Cha-Cha-Cha-Changes ist das so eine Sache. Bei anderen erwarten wir sie stets in dem Maße, wie sie uns zu passe kommen, selbst scheuen wir Veränderungen gern mit dem Hinweis auf Alter und/oder Umstände. In der Musik läuft’s auch gern mal andersrum – als Hörer*in hüpft man gern von Blüte zu Blüte, unstet, stimmungsabhängig, ohne Geduld, von den Idolen der Jugendzeit wird aber die zuverlässige Lieferung von Alterhergebrachtem erwartet, dazu angetan, Nostalgie und Gegenwartsflucht zu befriedigen – bloß keine Herausforderungen. Auch interessant: In Zeiten wie diesen, wo die Welt unter der Pandemieglocke stillzustehen scheint, keine Bewegung (erst recht nicht zum Besseren) in Sicht, ändert sich unser mentales Befinden sehr wohl, werden wir unsicher, zweifelnd, misstrauisch, reizbar, klammern wir uns an kleine Gewissheiten. Wie passt da jetzt die Platte von Matt Berninger hinein? Nun, der Mann hat zunächst die Veränderungen, die das Alter so mit sich bringt, zum Thema seiner Soloarbeit gemacht – nicht selten sind es schmerzhafte, die mit Enttäuschungen, Verlusten einhergehen. Zudem ist Berninger jemand, der selbst als gutes Beispiel für innere und äußere Wandlungen herhalten kann ... [
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22
Nick Cave And Warren Ellis
"Carnage"
Es gibt wahrlich nicht viele Künstler wie Nick Cave. Auf der einen Seite schreibt der Mann seit über vierzig Jahren mit bemerkenswerter Konstanz Songs, die man zum besseren Verständnis allesamt auf einem zerstörungssicheren Tonträger den Wesen hinterlassen möchte, die uns Menschen dereinst, wenn wir den Planeten endgültig in Grund und Boden gewirtschaftet haben, folgen werden (der einzige Grund, warum sie 1977 auf den sog. Voyager Golden Records keinen Platz fanden, muss die mangelnde Verfügbarkeit gewesen sein). Songs sind das von erhabener Schönheit, von sakraler Anmut, Songs mit einer Schwärze, die mitsamt ihrer Wut, ihrem Schmerz und ihrer Erosionskraft direkt dem Hades entrissen scheinen. Zugleich ist es Cave (trotz oder wegen der persönlichen Schicksalsschläge) aber auch gelungen, nahbar zu bleiben. Nicht als joviale Plaudertasche in den Netzwerken – er hat mit seiner Seite The Red Hand Files einen ganz eigenen Weg gefunden, einen, den er noch dazu selbst gut kontrollieren kann. Cave antwortet dort auf die Fragen zumeist junger Fans und er tut dies mit einer Lebensklugheit, einer Herzenswärme und Klarheit, die man sich selbst oft wünscht, wenn der eigene Nachwuchs mal wieder mit unsicherem Blick in der Tür steht ... [
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21
Fritzi Ernst
"Keine Termine"
Es gibt durchaus gute Gründe, allein ins Kino, zu Ausstellungen oder eben auf Konzerte zu gehen. Geschmäcker sind ja bekanntlich und sehr zu Recht verschieden, dennoch muss man sich nicht freiwillig mit irritierten Seitenblicken, ungeduldigem Schnaufen oder der Frage: „Echt, das gefällt dir?!“ abplagen, sondern genießt manches besser für sich. Sichere Kandidatinnen für hochgezogene Brauen oder genervtes Augenrollen waren für lange Zeit Daniela Reis und Friederike „Fritzi“ Ernst, die unter dem schönen Namen Schnipo Schranke zwei wunderbare und ziemlich weirde Alben veröffentlichten. Beide einte der Sinn für skurrilen Humor, ein obsessives Verhältnis zu Körperflüssigkeiten aller Art und die Fähigkeit, Dinge, die vielen Mitmenschen sonst die Schamesröte ins Gesicht treibt, auf ungekünstelte und durchaus poetische Weise zu besingen. Lange bevor Blond die Hinterhältigkeiten der Monatsblutung thematisierten („Es könnte grad nicht schöner sein“), standen Sperma, Spucke, Pisse und Eiter bei den Hamburgerinnen bereits auf der Setlist, wurde die Reise des Tampons durch die Kanalisation schon musikalisch begleitet. Klar, dass da nicht jede und jeder ohne weiteres mit klarkam, man kann und will es halt auch nicht allen recht machen ... [
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20
Smerz
"Believer"
Es wären wohl kaum Beschwerden gekommen, hätte sich das norwegische Duo Smerz für ihr erstes Album ein weiteres Mal auf ihr Erfolgsrezept Minimal-Electro verlassen. Nice to have, sagt man in solchen Fällen, vom Formatpop für Menschen, die nur Musik hören, weil sie nicht hinhören wollen, sind die Tracks von Catharina Stoltenberg und Henriette Motzfeldt ohnehin Lichtjahre entfernt. Soll heißen, experimentell waren die beiden schon immer, angefangen bei ihrer ersten EP "Okey" (2016), stärker noch auf "Have Fun" zwei Jahre später. Disruptive, verschränkte Technoklänge, weißes Rauschen, Noise plus Beats, dazu die zarten Stimmen - das hätte man auch jetzt wieder dankend genommen. Wollten sie aber nicht, war ihnen zu wenig. Der Anspruch von Smerz, so erzählten sie es gerade der Seite Kulturnews, bleibt unbedingte Radikalität, Genregrenzen halten sie für hinderlich. Und so kamen sowohl aktuelle Vorlieben als auch Erfahrungen ihrer musikalischen Sozialisation in den kreativen Mixer - herausgekommen ist ein Album, dass es so tatsächlich selten zu hören gibt ... [
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19
Arlo Parks
"Collapsed In Sunbeams"
Natürlich macht man sich nicht gerade beliebt, wenn man sich im allgemeinen und völlig berechtigten Jubel um diese Platte mit dem erhobenen Zeigefinger und einem vorsorglichen „Ja, aber…“ bemerkbar machen will. Genaugenommen können das auch nur die Menschen nachvollziehen, die Ende der 80er schon im Vollbesitz ihres musikalischen Urteilsvermögens waren und also eine Künstlerin namens Tracy Chapman erleben durften. Die junge und schwarze Songwriterin debütierte 1988 mit einem Album, dass einer Sensation gleichkam – Bestplatzierungen in allen europäischen Hitlisten, Nummer eins der US-amerikanischen Billboard-Charts, man konnte diesen wunderbar weichen und doch brüchigen Songs damals nicht entkommen – und wollte es auch gar nicht. Zumindest anfangs. Denn mit solchen Sensationen ist es immer so eine Sache. Sie begeistern zunächst einige wenige, die dann die Euphorie weiter in die Magazine, Radios und TV-Stationen tragen und irgendwann landen sie dann in der VOGUE als akustisch passende Ergänzung zum neuen Designer-Couchtisch, in der heavy rotation diverser Kaffeehausketten (gab es in den Achtzigern zum Glück kaum welche) und im formatierten Dudelfunk – vorbei der Zauber ... [
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18
International Music
"Ententraum"
Dass International Music bereits mit dem zweiten Album ihr Opus Magnum veröffentlichen, ist keine große Überraschung, schließlich steckt bei ihnen die Gigantomanie schon im Namen. Schließlich kommen sie aus Essen und dort wie nebenan wird, wie wir wissen, gern groß gedacht (selbst wenn nicht viel dahintersteckt). Davon kann bei Peter Rubel, Pedro Goncalves Crescenti und Joel Roters allerdings überhaupt keine Rede sein, schon mit dem Debüt „Die besten Jahre“ ist ihnen 2018 etwas gelungen, das es so hierzulande kaum gibt – das Hohelied der Kneipenpoesie, Plüschpunk für den Tresen, zarte, bierselige Choräle ganz ohne Banalitäten oder peinliche Prollreime. Hier will sich die Dunkelheit anschmiegen, will hinüberdämmern ins Zwielicht aus Delirium und Weltenflucht. Und auch wenn sie für das vorliegende Werk die rauchverhangenen Katakomben meist gegen die zwitschernde und quakende Natur getauscht haben, wurde doch sonst nichts Wesentliches geändert. ... [
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17
Amyl And The Sniffers
"Comfort To Me"
Schon als Amy Taylor 2016 gemeinsam mit ihren Schnüfflern und der ersten EP „Giddy“ auf der Bildfläche erschien, war die Reaktion absehbar: Das ist die, die immer Ärger sucht und macht, der man auf dem Schulhof besser aus dem Weg gegangen ist, die aufmuckt und anrennt, auch wenn sie sich dabei mal eine blutige Nase holt. Eine wie Amy Taylor hat man im Geheimen immer beneidet um ihre Furchtlosigkeit, ihr großes Maul und die Lässigkeit, mit der sie durch die Straßen streunte und jeden Gegenüber schon mit Blicken zugrunde richten konnte. Trotzdem blieb man lieber auf Abstand, weil man der Urgewalt, die sie ausstrahlt, ohnehin nicht gewachsen war. Und ist. Denn an das fabelhafte Debüt von 2019 schließt nun eine Platte an, die noch schneller, noch kompromissloser ist. Die Songs allesamt mächtige Schläge in die Magengrube – „Guided By Angels“, „Freaks To The Front“, „Choices“, „Security“ und wie sie alle heißen, kurzatmige Bretter zwischen Punk und Garagerock, verfeinert mit jeder Menge herrlicher Gitarrensoli, die man so heute kaum noch zu hören bekommt ... [
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16
Noga Erez
"KIDS"
Angefangen hatte alles mit diesen irren Beats. Metallenen, trockenen, abgehackten Beats – Electro, Grime, Techno, Dance, whatever. Und der Frage: „Can you shoot while dancing, can you dance while you shoot?“ Gestellt wurde sie von einer Frau, die so gar nicht wie eine aussah, die provozieren, die anecken, die unbequem sein wollte. Wie sie in dem abgefuckten Betonklotz stand, die Haare brav zum Knoten hochgesteckt oder offen über die Schultern fallend, unauffällig gekleidet – da wirkte sie fast ein wenig fehlplatziert, ganz so, als hätte der Regisseur sie testen wollen, ob sie in dieser trostlosen Atmosphäre wohl bestehen könnte. Nun, man muß sich um Noga Erez keine Sorgen machen, sie weiß, was sie will, sie kennt das und hält es aus. Geboren in Tel Aviv, einer Stadt, die wie keine zweite in Israel die Gegensätze dieses Landes, der Kulturen, der Religionen und Lebensentwürfe sichtbar werden lässt, wo das tägliche Leben wie nirgendwo sonst den Widerspruch zwischen ultraorthodoxer Selbstbeschränkung und wilder, westlicher Freiheit, zwischen kaum zu verhehlender Armut und überbordendem Luxus spiegelt. Und doch: Der Krieg ist nebenan, ein paar Kilometer weiter und die Frage, der niemand entkommt, heißt demnach: „Wie kannst du damit leben, ohne verrückt zu werden?“ ... [
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15
The Notwist
"Vertigo Days"
Es wäre natürlich überaus anmaßend, zu behaupten, Menschen, die sich der Schallplatte und also dem klassischen Musikalbum verweigerten, würden ein äußerst armes Leben führen. Es sei vielmehr jeder/m selbst überlassen, auf welche Weise er oder sie das Klangerlebnis sucht. Es soll zum Beispiel Leute geben, die können die Songs ihrer Lieblinge nur bei geöffneten Fahrzeugdach, auf menschenleerer Strecke und ab einer gewissen Geschwindigkeit erst so richtig genießen; wo die einen zur Vollendung des Hörerlebnisses Rotwein und Tropfkerzen im Dutzend brauchen, genügt anderen ein dunkler, schalldichter Keller mit der Lautstärke einer Anlage, die dritte wiederum umgehend als Folterversuch nach Den Haag weitermelden würden. So viele Genres und Stile, so viele Möglichkeiten, damit glücklich zu werden. Die Musik der Band The Notwist nun war schon immer eine besondere, ihre Alben im besten aller Sinne dafür geeignet, Klang nicht nur zu hören, sondern auch zu zelebrieren. Spätestens seit ihrem Kursschwenk um die Jahrtausendwende und dazugehörigen Meisterwerk „Neon Golden“ möchte man ihre Neuveröffentlichungen mehr als nur erfreut zur Kenntnis nehmen, einschalten, wegsortieren – die Behauptung, dem unglaublich vielschichtigen, reichen Klangkosmos des Weilheimer Kollektivs könnte man nur mit dem nötigen Maß an Muße, Konzentration und Geduld gerecht werden, ist sicherlich nicht allzu gewagt. ... [
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14
Idles
"Crawler"
Das eigene Ich ist mit Sicherheit der Bereich, in dem sich jede und jeder selbst am besten auskennt, ob nun bewusst oder unterbewusst. Als sicheres Terrain taugt es deswegen noch lange nicht, vor allem, wenn allerhand Dämonen, soll heißen unangenehme Erinnerungen, Traumata, Ängste, dort ihr Unwesen treiben. Gut oder schlecht – sie verschwinden nicht, sie bleiben unaufgefordert und je mehr man sich weigert, sie zur Kenntnis zu nehmen, je mehr man sie auf Abstand hält, desto größer und bedrohlicher werden sie, scheinriesengleich. Joe Talbot, so möchte man annehmen, kennt diese Dämonen zur Genüge. Er hat ausreichend erlebt, um Respekt vor ihnen zu haben – das ambivalente Verhältnis zum dominanten Vater, die alkoholsüchtige Mutter, die eigenen Abhängigkeiten, ein lebensgefährlicher Unfall, ein totgeborenes Kind. Der Mann hätte also Grund, sich diesen schmerzhaften Gegenüberstellungen zu verweigern. Für ihre letzte Platte „Ultra Mono“ haben Talbot und seine Band, den Idles aus Bristol, neben einigem Lob auch reichlich Kritik abbekommen, zu viel Hülle, zu wenig Substanz, inhaltlich und musikalisch sehr unentschieden. Es gab jede Menge störende Nebengeräusche, die Band geriet, berechtigt oder nicht, in Rechtfertigungszwang zu Themen wie Glaubwürdigkeit, Rassismus und Frauenfeindlichkeit und manche/r stimmte schon den Niedergang an ... [
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13
Masha Qrella
"Woanders"
Doch, man hätte es irgendwie schon gern gewusst. Wie er es denn findet, das neue Gewand, in das seine Gedichte gekleidet wurden. Fragen kann man ihn ja leider nicht mehr, Brasch ist tot, kein Freispiel drin. Aber nur, weil die Schwester Marion, die Musikerin selbst und auch wir es gut und gelungen finden, heißt das ja noch nicht, dass Thomas Brasch, unbestritten einer der größten Poeten der deutschen Nachkriegsjahre, Gefallen daran gefunden hätte. Weil Pop ein Vereinnahmer und Vereinfacher sein kann, weil Gedichte vielleicht an Schärfe und Dringlichkeit verlieren, wenn sie zu tanzen beginnen. Aber die Dinge passieren eben nicht zufällig, sie finden einander vielmehr und so kommt es nicht von ungefähr, dass das Familienporträt „Ab jetzt ist Ruhe“, geschrieben von der Schwester des Dichters, eben Masha Qrella vor Jahren in die Hände fiel und dessen Worte haften blieben, Eindruck machten. Und zwar noch vor dem eigentlichen Werk des Dichters selbst. Es ist die Biographie, die Qrella beschäftigt, es sind die Brüche, auch die Tragik dieser Familie, die sie faszinieren und bei der Sache bleiben lassen ... [
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12
Billie Eilish
"Happier Than Ever"
Je älter wir werden, desto größer ist die Versuchung, mit unseren Erfahrungen zu prahlen. Klar, womit sollen wir auch sonst so punkten, wenn die Haare schütter, die Knochen morsch und die Haut faltig werden. Also – alles schon gehört, alles schon gesehen? Zugegeben, Überraschungen sind rar gesät, aber als Billie Eilish vor zwei Jahren alle Welt verrückt machte, mussten wir doch anerkennen, dass das alles schon recht neu oder zumindest ziemlich clever war. Popstar und Gothkid, benahm sich so ganz anders, als wir es von den Postergirls und –boys unsrer Zeit gewohnt waren, angenehm unangepasst, die wichtigen Themen zur richtigen Zeit. Ganz ehrlich, es ist tatsächlich ein großes Geschenk, die eigenen Töchter mit dieser Billie Eilish aufwachsen zu sehen (denn sie hätten es weitaus schlimmer treffen können), sehnsüchtig, ausgeflippt, an den Lippen hängend, natürlich auch irritiert, verunsichert, zweifelnd. Aber das nur, um letztendlich noch fester zu ihr, zu ihren Ansichten, Kämpfen zu stehen. Zur Zufriedenheit und auch der Sorge mischt sich dann auch ein wenig Neid, dass diese Zeiten für uns unwiederbringlich vorbei sind und man muss nicht noch mal die Sache mit dem Bogen und den lebenden Pfeilen aufkochen, um zu wissen, dass es grundverschiedene Welten sind, in denen wir leben ... [
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11
Milliarden
"Schuldig"
Das kommt selbst im Land der Dichter und Denker nicht so häufig vor, dass sich eine Band, von der nicht wenige behaupten, sie sei Punk, ihre Zuhörerschaft so deutlich mit Exkursen in Sachen Poesie herausfordert. Wir reden von Milliarden, der Truppe aus Berlin also, denen laut Selbstbezichtigung aus Gründerzeiten die Sonne aus dem Arsch scheint, das Herz übervoll, aber nichts zu fressen. Und genau die haben auf ihrem neuen Album, von dem wir jetzt einfach mal behaupten, es sei ihr bestes, gleich zweimal aus der Hochkultur zitiert – ein Wagnis, das nicht jedermanns Sache ist. Nehmen wir zum Beispiel den Song „Die Gedanken sind frei“. Natürlich denkt der bildungsbürgerliche Auskenner da gleich an Hoffmann von Fallersleben, an von Arnim und Brentano, Wecker und Scholl. Aber so weit oben muss man gar nicht ins Fach greifen, denn Ben Hartmann bleibt zum Glück im Sinngemäßen und dichtet seine eigenen Zeilen zur historischen dazu. Anders in „Wonderland“ – hier wird tatsächlich ausführlich zitiert und zwar aus dem Werk des großen Lyrikers Thomas Brasch und seinem Zyklus „Der Papiertiger“, geschrieben Mitte der 70er Jahre ... [
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10
Squid
"Bright Green Field"
Kann schon sein, dass der Vergleich etwas früh kommt und deshalb arg am Hinken ist. Aber wer hätte bei „Pablo Honey“ gedacht, dass eine Band wie Radiohead mal Alben wie „OK Computer“, „Kid A“ oder „Amnesiac“ veröffentlichen würde? Zur Erinnerung: Squid haben ihre Karriere vor drei Jahren mit einem Song über „Topfpflanzen“ begonnen, eine behagliche Zukunft in der Schublade Post-Punk war soweit beschriftet, alles klar eigentlich. Dass die fünf Jungs aus Brighton nun so ein atemberaubendes Tempo und eben dieses Debüt vorlegen, war sicher nicht absehbar, um so bemerkenswerter der Schritt, um so überwältigender der Eindruck jetzt. Gut, sie sind beileibe nicht die Einzigen, die ihre Bedenken hintenanstellen, ob das, was sie da tun, draußen auch angenommen werden würde, ob die Anhänger der ersten Stunde den Schwenk mitzugehen bereit sind – Bands wie Black Midi und Black Country, New Road können ähnlich ambitionierte Sachen vorweisen. Die einzige Frage, die hier gestellt wurde, hieß offensichtlich: Was geht? Und ihre Antwort heißt: Sehr viel ... [
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9
Mastodon
"Hushed And Grim"
Erst das Bild, dann der Ton: Da stehen dann also die vier Männer in blaugefärbter Kälte – gefurchte, tiefernste Gesichter, die nicht nur vorgeben, einiges gesehen zu haben im Leben, sie haben ja tatsächlich allen Grund zu mäßiger Laune. Metalbands geben sich ja seit jeher gern als Kämpfer an der Seite des Teufels, die von Berufs wegen dem Tod unablässig auf Augenhöhe entgegentreten müssen, meistens jedoch sind die Schlachten, die sie schlagen und die Wunden, die sie einstecken müssen eher Metaphern aus dem Widerstreit mit den eigenen Dämonen. Auch die sind nicht ohne, aber Mastodon haben nun leider wirklich ein sehr intensives Verhältnis zu Leid und Vergänglichkeit, im Umfeld der vier gab es in den letzten Jahren doch recht viele Verluste zu beklagen. Peter Richter schrieb gerade recht treffend in der
SZ, die Band habe wohl inzwischen „mehr Passionszyklen vertont als Bach“ und gäbe es nicht die Familie Ramone als unfreiwilligen Gradmesser, sie würden wohl den Spitzenplatz in dieser bizarren Statistik belegen ... [
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8
Tyler, The Creator
"Call Me, If You Get Lost"
Beim Thema Unterhaltung bekommen hierzulande fast alle Entscheidungsträger weiche Knie und werden zu Angsthasen, Bedenkenträgern und/oder bemitleidenswerten Figuren – egal ob Musik, Comedy, Late-Night, Film resp. Serie, stets wirkt es irgendwie angestrengt, übermotiviert, langweilig oder peinlich, richtig gut gelingt es selten. Dass solche Dinge bei uns entweder in einem Fettnäpfchen-Marathon, einer albernen Lachnummer oder dröger Langeweile enden, hat natürlich zu gleichen Teilen mit schlechtem Personal und historisch bedingter Überverkrampftheit zu tun, es allen recht zu machen ist ein urdeutsches Anliegen und geht in der Regel mächtig schief. Das Problem kennen die Amerikaner nicht, Entertainment gibt’s bei ihnen nur in Großbuchstaben und selbst wenn sie’s mal an die Wand fahren, haben sie eine Riesenspaß dabei. Richtig gut wird es dann, wenn sich die um den Job kümmern, die eigentlich sonst nicht viel zu lachen haben. Dave Chapelle ist das wohl prominenteste Beispiel, sein Aufritt anlässlich des gewaltsamen Todes von George Floyd („8:46“) zeigt auf beeindruckende Weise, dass selbst bei solche schrecklichen Anlässen Humor und Haltung auf wunderbare Art zusammenpassen können ... [
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7
Low
"HEY WHAT"
Es muss also nicht immer so sein. Dass man mit zunehmendem Alter bequemer, ängstlicher wird, dass man auf Sicherheit bedacht ist und lieber der Gewohnheit folgt, als mit ihr zu brechen und Neues auch auf die Gefahr hin zu probieren, daran zu scheitern. Viele Musikerinnen und Musiker, kommen sie in die Jahre, folgen dem immergleichen Schema, auch mit dem Hinweis, für den Ausbruch und die Innovation wären sie nicht mehr zuständig, dafür gäbe es schließlich die Jungen, Verwegenen. Doch wo steht geschrieben, dass nicht beides geht – das Vorrecht der nachwachsenden Generation auf den Umsturz anzuerkennen und zugleich sich selbst ständig herauszufordern? Alan Sparhawk kann, auf das Thema angesprochen, recht treffend dazu einsteigen: „That’s what young people should be doing—they should be smashing it and building their own vocabulary.“ Kein Neid, keine Wehmut klingt da bei dem mittlerweile Fünfzigjährigen durch, sondern Offenheit und auch Neugier. Und selbst? Mit Ehefrau und künstlerischer Partnerin Mimi Parker hat er das gemeinsame Projekt Low zu einem ziemlich einzigartigen Hort ständiger Veränderung und Kreativität gemacht. Kaum eine andere Band der letzten Jahrzehnte hat derart konsequent neue Technologien und Produktionsmöglichkeiten ausprobiert und auch genutzt, kaum jemand hat den Sound ähnlich mutig vorangetrieben und erneuert wie Low ... [
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6
Little Simz
"Sometimes I Might Be Introvert"
Jetzt müssen wir zu Beginn doch ganz kurz mal in die Zukunft und das gemeinsam mit Sibylle Berg. Diese hat ja vor einiger Zeit eine grandiose Dystopie mit dem Namen „GRM“ geschrieben, in der es nur am Rande um Grime geht – die Musik ist hier mehr Trost und Rückzugsort der Protagonisten und weniger Hauptthema des Romans. Namen werden selten genannt, der von Little Simz aus London ist allerdings schon mit dabei. Und weil sie in dieser heraufdämmernden, endzeitlichen Utopie schon zu den Etablierten, den Superstars gehört, sind die Kommentare zu ihr eher zurückhaltend, vielleicht sogar enttäuscht. Wie schnell diese Zukunft Realität werden kann, sieht und hört man nun an dem aktuellen zweiten Album der Künstlerin. An Selbstvertrauen hat es Simbiatu Ajikawo, Spitzname Simbi alias Little Simz aus dem Stadtteil Islington seit Anbeginn ihrer Karriere noch selten gemangelt, das ist gut so und vollkommen berechtigt – insofern ist der Titel der neuen Platte natürlich schon mal einen Extrapunkt wert ... [
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5
Gewalt
"Paradies"
Lustig? Nein, lustig ist hier mal gar nichts. Obwohl – Patrick Wagner, dem zornigen, aber grundsympathischen Schreihals und Frontmann der Band Gewalt, wäre auch das noch zuzutrauen. Schließlich ist ihm nichts mehr zuwider als Langeweile und Stumpfsinn, Hauptsache es bewegt sich was, in welche Richtung auch immer. Doch wenn schon nicht lustig, dann ist das zumindest unfreiwillig komisch, dass also eine Band, die das Deutsche so ostentativ verabscheut wie das Berliner Quartett, deutscher nicht klingen könnte. Also nach zackigem Stechschritt, nach Drill, mit Worten, gebrüllt wie Kasernenkommandos, schmerzhaft wie Peitschenhiebe. Überhaupt: Schmerz. Um den geht’s bei Gewalt, bei Wagner vordringlich. Wer Schmerz spürt, ist am Leben, bewegt sich, instinktiv. Alles andere zählt nicht. Das mag jetzt vielleicht kein originärer Ansatz sein, vor Gewalt gab es schließlich schon viele, die sich an der Körperlichkeit und Unbedingtheit menschlicher Existenz abarbeiteten –und doch ist es neu, ist es hierzulande einzigartig, was Wagner zusammen mit Helen Henfling an der Gitarre, der wunderbaren Jasmin Rilke am Bass und Schlagzeuger LMMS da veranstaltet ... [
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4
Sleaford Mods
"Spare Ribs"
Auf Netflix gibt es gerade eine sechsteilige Dokumentation mit dem Titel „History Of Swear Words“. Die einzelnen Folgen lauten (kein Scherz!) „Fuck“, „Shit“, „Bitch“, „Dick“, „Pussy“ und „Damn“, moderiert werden die Erläuterungen honoriger Wissenschaftler und bekannter Celebrities von Schauspieler Nicholas Cage. Über den näheren Sinn einer solchen Filmreihe darf gestritten werden, gleich nachdem Cage mit einer Art Urschrei das erste Tabu gebrochen hat – man kann die zartbesaiteten Zuschauerseelchen auf der Couch richtig zusammenzucken sehen, wenn es hier angeblich mal richtig zur Sache geht. Allerdings fragt man sich spätestens nach ein paar Minuten, wo denn in dieser illustren Besetzung Jason Williamson, Frontmann der Sleaford Mods abgeblieben ist – kaum ein Künstler dieser Tage hat das Fluchen so sehr wie er zur poetischen Kunstform erhoben, keinem ist es so sehr Markenzeichen geworden und wollte man seine Songs im amerikanischen Radio spielen, sie müssten wohl als einziger, langer Piepton enden ... [
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Divide And Dissolve
"Gas Lit"
Wer in der glücklichen Lage ist, sich nicht täglich mit dem verbalen Schmutz zu befassen, der die Kanäle diverser Netzplattformen flutet, ist fein raus. Doch selbst jene, die nicht direkt damit konfrontiert werden – sei es, dass sie selbst Adressat*innen solcher Schmähungen sind oder aber als niedrigbelohnte digitale Reinigungskräfte versuchen, den ganzen Mist zu löschen – wer also diesen ganzen Müll, der aus dumpfer Leute Hirne quillt, dann doch einmal liest, dem fehlen oft die Worte ob der Unverfrorenheit, des unstillbaren Hasses und des verstörenden Mangels an Beherrschung, Sachlichkeit und Empahthie, die solche Kommentatoren in diverse Foren bringen. Man darf leider davon ausgehen, dass Takiaya Reed als Frau mit sowohl schwarzen als auch indigenen Wurzeln und Sylvie Nehill als gebürtige Maori selbst in ihrem noch jungen Leben viel von diesen schlimmen Dingen zu lesen und zu hören bekommen haben – die Tatsache, dass sie darüber nicht den Lebensmut verlieren, fordert schon mal ersten Respekt ... [
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2
Sons Of Kemet
"Black To The Future"
Die Gelegenheit, sich mit der Geschichte schwarzer Musik auseinanderzusetzen, ist in diesen Tagen, Wochen und Monaten günstiger denn je. Gut, auf den Auslöser, warum sich gerade jetzt verstärkt die afroamerikanische Kultur auch in unsere westeuropäische Wahrnehmung schiebt, hätte man natürlich gern verzichtet – Polizeigewalt gegen vornehmlich schwarze Mitmenschen, Alltagsrassismus, das Wiedererstarken der White-Supremacy-Bewegung, all das sind Dinge, die man überwunden glaubte und die doch nur beiseitegeschoben, verdrängt waren von anderen Themen und die nun mit Macht nach Wahrnehmung und Auseinandersetzung verlangen. Und das eben auch und besonders vielfältig in der Musik. Künstlerinnen und Künstler wie SAULT, MF Doom, Algiers, Run The Jewels, Beyonce, DMX, Alicia Keys, Kamasi Washington, Little Simz, Stormzy, Ghostpoet, Arlo Parks, Vagabon, Madlib, Slowthai, sonst in gänzlich unterschiedlichen Genres unterwegs, eint nun die gemeinsame Aufgabe, die Dringlichkeit besagter Probleme in unser Bewusstsein zu bringen. Und wir wiederum sind angehalten, ihre Klangen, Warnungen, ihre Wut und Frustration nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern darauf zu reagieren ... [
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1
Black Country, New Road
"For The First Time"
Was Hans eine eherne Regel ist, sollte nach einiger Zeit auch für Hänschen gelten, heißt – was Journalist*innen ohnehin schon verinnerlicht haben, dürfen auch Blogger*innen beherzigen. Hier: Der Umgang mit Superlativen sollte ein sehr sorgsamer sein. Denn wer zu früh zu viel jubelt, dem gehen auf der Zielgeraden (also zum Jahresende) die Argumente resp. Attribute aus. Auch und gerade im Musikbusiness. Dabei ist es so unstrittig wie erstaunlich, dass in jeder Saison so viele ungemein gute Songs und Alben veröffentlicht werden – immer dann also, wenn man meint, das vergangene Jahr sei nicht mehr zu toppen, kommt dann doch ein noch besseres daher. Gut möglich aber auch, dass es vielen Kandidat*innen beim Start an der nötigen Schubkraft fehlt, wenn nicht irgendwann wer das Schreien anfängt. Vielleicht hätten sich dann die folgenden Jahre ganz anders ausgenommen – 1991 (Nevermind), 1997 (OK Computer), 2001 (Is This It?), 2009 (XX), 2010 (My Beautiful Dark Twisted Fantasy) oder 2019 (When We Fall Asleep, Where Do We Go?), um nur ein paar aktuellere Beispiele zu nennen… [
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