Samstag, 6. November 2021

Gewalt: Im Fegefeuer

Gewalt
„Paradies“

(Clouds Hill Records)

Lustig? Nein, lustig ist hier mal gar nichts. Obwohl – Patrick Wagner, dem zornigen, aber grundsympathischen Schreihals und Frontmann der Band Gewalt, wäre auch das noch zuzutrauen. Schließlich ist ihm nichts mehr zuwider als Langeweile und Stumpfsinn, Hauptsache es bewegt sich was, in welche Richtung auch immer. Doch wenn schon nicht lustig, dann ist das zumindest unfreiwillig komisch, dass also eine Band, die das Deutsche so ostentativ verabscheut wie das Berliner Quartett, deutscher nicht klingen könnte. Also nach zackigem Stechschritt, nach Drill, mit Worten, gebrüllt wie Kasernenkommandos, schmerzhaft wie Peitschenhiebe. Überhaupt: Schmerz. Um den geht’s bei Gewalt, bei Wagner vordringlich. Wer Schmerz spürt, ist am Leben, bewegt sich, instinktiv. Alles andere zählt nicht. Das mag jetzt vielleicht kein originärer Ansatz sein, vor Gewalt gab es schließlich schon viele, die sich an der Körperlichkeit und Unbedingtheit menschlicher Existenz abarbeiteten –und doch ist es neu, ist es hierzulande einzigartig, was Wagner zusammen mit Helen Henfling an der Gitarre, der wunderbaren Jasmin Rilke am Bass und Schlagzeuger LMMS da veranstaltet.

Suicide also, D.A.F., Atari Teenage Riot vielleicht und auch die allzeit sträflich unterschätzten Public Image Ltd., all diese Querverweise lassen sich aus den zehn neuen und den elf nicht mehr ganz so aktuellen Songs, die zu diesem herrliche Doppelalbum gehören, herleiten. Die Zusammensetzung aber, die Verkantung der Zutaten zu diesem furchterregenden, überwältigenden Sound lässt einem, hört man ihn in dieser Massierung, den Atem stocken. Die bösen Maschinenbeats von „Gier“, das mächtige stampfende Intro der Single „Es funktioniert“ (das man so ähnlich vielleicht schon mal bei The Art Of Noise gehört haben will), die wild kreischenden Gitarren von „Stirb es gleich“ oder der Bass, der bei „Stumpfer werden“ direkt in die Magengrube zielt. Gewalt kennen keine Gnade – dieses Album kommt als eine Art musikalisches Ultimate Fighting daher und gibt erst Ruhe, wenn der Gegner erschöpft am Boden liegt - Kapitulation.

Gegner ist genaugenommen natürlich schwierig, denn es ist nicht anzunehmen, dass die Adressaten von Wagners verbaler Wut jemals eine Zeile davon zu hören bekommen: Die öden Spießer also, die Kontrollfreaks, Wohlstandsbewahrer und Änderungsverweigerer. Draußen ist immer noch feindlich, da ist er ganz in den 80ern bei Blixa Bargeld und dem infernalischen Gesplitter der Einstürzenden Neubauten. Draußen sind die anderen Menschen, da will er nicht hin, denn die tun ihm nicht gut. Die verstecken die Abweichler in geschlossenen Zellen und erklären sie zu hoffnungslosen Fällen, zu Irren. Doch wer gehört dazu? Wer ist normal und wer verrückt? Und wo ist es, das versprochene „Paradies“ – ist es außerhalb der Mauern oder doch hier drinnen? Unerbittlich ist er, der Wagner, Selbsthass ist ihm vertraut. Denn er weiß, dass er und wir alle, die wir gern mit dem Finger auf andere zeigen, ebenso schuldig sind, dass wir mit dazu gehören zum ganzen Schlamassel. Einzig diese Erkenntnis verspricht, wenn schon keine Rettung, so doch wenigstens die Linderung der Schmerzen. Eine Platte wie ein Fegefeuer – wildes Geheul, weiße Glut, keinerlei Hoffnung. Und doch, ganz zum Schluss, in der Stille zwischen Nacht und Tag, um „3:35“, da entdeckt Wagner die Liebe. Und erzählt uns von ihr, zum Trost.

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