Mittwoch, 22. April 2020

Jason Williamson: Derselben Meinung

Viele prominente Menschen in diesem Land bekommen ja gerade schmerzhaft zu spüren, dass ihr bis dato größtes Kapital, die Öffentlichkeit, auf ein sehr überschaubares Maß, nämlich die eigenen vier Wände, und, weitaus schlimmer, auch die dazugehörige Aufmerksamkeit geschrumpft ist. Kein Veranstaltung, auf der zu glänzen sich lohnt, keine Insta-Story, die sich verkaufen ließe, ohne böse Kommentare und Sozialneid zu riskieren. Die Versuche, dem Dilemma zu entkommen, sind selten einfallsreich und gewitzt, sondern reichen eher von unbeholfen bis traurig. Hier eine Challenge, dort vor laufender Kamera eine Maske genäht, ein bisschen im Fotoalbum geblättert oder Muttis Rezepte nachgekocht, Gutenachtgeschichten vorlesen geht zur Not auch, singen weniger, das war’s dann schon. Weitaus seltener, und das unterscheidet natürlich den bloßen Promi vom prominenten Künstler, ist die politische Meinungsäußerung – zu ungewohnt, zu heißes Pflaster, die Gefahr, sich den Mund zu verbrennen und deshalb später, im postcoronalen Partyzeitalter, da oder dort von der Gästeliste gestrichen zu werden, ist einfach zu groß. Dabei gäbe es genügend drängende Themen, zu denen man sich öffentlich durchaus mal ein paar Gedanken machen könnte.

Same there, but different: Jason Williamson von den Sleaford Mods aus Nottingham, natürlich Künstler und dort eher gewichtige Stimme als bekanntes Gesicht, war schon immer ein durch und durch politischer Mensch und selbst wenn einem die Musik seiner Band wenig zugänglich erscheint, nötigt seine unablässig kritische und schonungslose Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Erosion und politischen Isolation Englands (und also sein lyrischer Furor) allergrößten Respekt ab. Williamson, der privat, wie er sagt, zur Zeit nurmehr den Besuch im Gym um die Ecke vermisst, hat gerade im DAZED-Magazin eine sehr lesenswerte Wortmeldung zur Lage in seinem Heimatland veröffentlicht und wenn auch die hiesigen mit den dortigen Lebensumständen nur bedingt vergleichbar sind, so findet man in dem Text doch viele Zeilen, die man auch hier sofort unterschreiben möchte.

Williamson schreibt davon, dass der Kapitalismus spätestens in der Krise brüchig geworden ist, dass er uns in Bereiche der Gesellschaft drängt, mit denen wir zuvor nicht vertraut waren. Wir erkennen zunehmend die Bedeutung von Berufen, er nennt sie „frontline workers“, die wir vordem als selbstverständlich vorausgesetzt und eben kaum wahrgenommen haben. Und reagieren dann damit, dass wir uns zum allabendlichen Klatschen auf den Balkonen versammeln. „Ich verstehe, dass die Menschen in Panik geraten sind, und ich verstehe, dass sie vielleicht das Gefühl haben, dass der Beifall alles ist, was sie in dieser Zeit der Krise tun können,“ so schreibt er, „aber das ist nicht genug. Diese Menschen brauchen keinen Applaus. Sie müssen einen Lohn erhalten, der es ihnen ermöglicht, in unserer Gesellschaft komfortabel leben zu können …“ Eine Erkenntnis, die man vielen Politiker-/Mitbürger*innen in Deutschland gleichfalls wünschen möchte. Es geht eben nicht nur um den Bonus-Scheck, es geht um das generelle Gehaltsgefüge, um die nachhaltige Wertschätzung derer, die dafür sorgen, dass – einfach formuliert – der Laden läuft.

Weiter schreibt Williamson von dem Wahnwitz, dass sich die führenden Eliten in England gerade dieselben hilflosen Gesten zu Eigen gemacht haben, genaugenommen also einem Gesundheitssystem (NHS) applaudieren, welches sie vorher skrupellos „bis auf die Knochen“ heruntergewirtschaftet haben – „Die Unterdrücker, die sich für ihre Opfer einsetzen, sind eine neue Ära des Schwachsinns“, konstatiert er und weiter: „Der freie Markt verschlingt derzeit kleine Unternehmen schneller, als eine schlecht vorbereitete Regierung blinzeln kann, unsere medizinischen Dienste kommen an ihre Grenzen, die Schwächsten leiden.“ Doch Williamson belässt es nicht bei zorniger Kritik, er fordert alle, auch uns alle in Europa, zum Weiterdenken auf, der Hässlichkeit des Geldes setzt er den dringend gebotenen kulturellen Wandel entgegen. Und die Hoffnung: „Wir werden [nach dem Lockdown] weitestgehend unverändert zu dem gewohnten Leben im gewohnten System zurückkehren … natürlich werden wir das tun. Aber sicher muss dieses System irgendwo beginnen, sich zu Gunsten des Humanismus zu verschieben.“ Worte, die wohl dort wie hier gelten sollten.

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