Sonntag, 31. Januar 2021

Madlib: Angenehmes Flirren

Madlib
„Sound Ancestors“

(Madlib Invazion)

So genial diese Art von Musik auch ist, sie birgt – zumindest für uns Normalsterbliche – auch ein nicht zu unterschätzendes, erhebliches Frustrationspotential. Man kennt das im Übrigen auch von der oft als ebenso lebensnotwendig erachteten Literatur. Wer hatte nicht auch schon diesen ernüchternden Moment, wo er/sie feststellen musste, um wievieles die Menge an vorzüglichen Büchern, die in früheren Jahrhunderten, Jahrzehnten oder eben gerade erst geschrieben worden sind, die Zeit übersteigt, die man selbst zur Verfügung hat, um sie alle zu lesen. Selbst wer sich eremitenhaft seiner Umwelt und ihren sonstigen Verführungen respektive Störungen zu entziehen vermag, wird das alles nicht bewältigen können. Es ist, wie gesagt, äußerst frustrierend. 

Nicht anders ergeht es einem mit dieser wunderbaren Platte hier. Die Art von hochintelligentem Patchwork, das Otis Jackson Jr. alias Madlib unter schöpferischer Mithilfe von Produzent Four Tet aka. Kieran Hebden hier präsentiert, ist so überreich an Quer- und Quellverweisen, dass einem, folgt man den glücksverheißenden Verästelungen bis hin zu den besagten ‚Ancestors‘, also Vorfahren, irgendwann die Zeit ausgeht - der Ärger darüber droht, die Freude an der Entdeckung zu überholen. Mit der nötigen Gelassenheit (woher aber nehmen?) muss man es natürlich so weit nicht kommen lassen – wohl denen, welche die dargebotene Palette an verschiedensten Stilen und Sounds mit ungetrübtem Glücksgefühl erleben können. Anlass dazu bietet sich in den vierzig Minuten zu Hauf: Wie auch schon auf vielen seiner vorangegangenen Alben und Kollaborationen erweist sich Madlib als Großmeister aller Bastler beim Verschneiden unterschiedlichster Einflüsse, historischer Bezüge und recht witziger Ideen (die Nummer mit dem Anrufbeantworter ist einfach zu schön). 

Sein epochales Album „Madvillain“ zusammen mit dem gerade verstorbenen MF Doom hat man ohnehin parat, dazu flirren einem unablässig Begriffe wie Blue Note und Motown durch den Kopf, der von der ersten Minute an sowieso schon in ständiger Alarmbereitschaft auf der Suche nach neuen Erinnerungsreizen ist. Wie hier also Zitate aus Jazz, Funk, Soul, Hip-Hop miteinander verwoben werden, wie lateinamerikanische und afrikanische Historie mit einfließen, das hat schon eine ganz besondere Qualität. Eine, die man im letzten Jahr auch vom Klangkollektiv Sault hören und bewundern durfte, eine, mit der in früheren Zeiten auch der legendäre Wu-Tang Clan und die späten Beastie Boys auf unterschiedliche Weise brilliert haben. Und wer für sich aus diesem auf’s feinste verschränkten Klangkosmos noch eine winzige Referenz zu entdecken vermag (hier war es beispielsweise – wahr oder nur der eigenen Phantasie geschuldet – „One More Night“ von Phil Collins in „Theme De Crabtree“), die/der ist danach um so glücklicher. Und vielleicht überwiegt ja dann doch eher die Freude darüber, was an Unbekanntem sonst noch auf einen wartet.

Freitag, 29. Januar 2021

The Notwist: Universalgenies

The Notwist
„Vertigo Days“

(Morr Music)

Es wäre natürlich überaus anmaßend, zu behaupten, Menschen, die sich der Schallplatte und also dem klassischen Musikalbum verweigerten, würden ein äußerst armes Leben führen. Es sei vielmehr jeder/m selbst überlassen, auf welche Weise er oder sie das Klangerlebnis sucht. Es soll zum Beispiel Leute geben, die können die Songs ihrer Lieblinge nur bei geöffneten Fahrzeugdach, auf menschenleerer Strecke und ab einer gewissen Geschwindigkeit erst so richtig genießen; wo die einen zur Vollendung des Hörerlebnisses Rotwein und Tropfkerzen im Dutzend brauchen, genügt anderen ein dunkler, schalldichter Keller mit der Lautstärke einer Anlage, die dritte wiederum umgehend als Folterversuch nach Den Haag weitermelden würden. So viele Genres und Stile, so viele Möglichkeiten, damit glücklich zu werden. Die Musik der Band The Notwist nun war schon immer eine besondere, ihre Alben im besten aller Sinne dafür geeignet, Klang nicht nur zu hören, sondern auch zu zelebrieren. Spätestens seit ihrem Kursschwenk um die Jahrtausendwende und dazugehörigen Meisterwerk „Neon Golden“ möchte man ihre Neuveröffentlichungen mehr als nur erfreut zur Kenntnis nehmen, einschalten, wegsortieren – die Behauptung, dem unglaublich vielschichtigen, reichen Klangkosmos des Weilheimer Kollektivs könnte man nur mit dem nötigen Maß an Muße, Konzentration und Geduld gerecht werden, ist sicherlich nicht allzu gewagt.



Legt man also die Nadel in die Rille, ist eines der ersten Geräusche, die zu vernehmen sind, das wohlvertraute Knistern des rotierenden Vinyls und es zeugt von Humor der Band und ihres genialen Produzenten Olaf O.P.A.L., dass eben jenes Geräusch vom Band zugespielt wurde, also auch in der digitalen Variante nicht fehlt. Ein erster Notwist-Moment, es werden viele Folgen. Die Platte über das Schwanken, das Kippen und Unwägbare unserer Tage öffnet, mehr als noch der Vorgänger „Close To The Glass“, eine Unmenge an neuen Türen, setzt zusätzliche Kolorierungen, probiert Dinge, die einen staunen machen. Der Jazz bekommt, auch mit den wunderbaren Klarinetten-Einspielungen von Angel Bat Dawid („Into The Ice Age“) noch mehr Raum, es krautrockt stellenweise ganz vorzüglich und selbst mit richtig lauten, richtig harten Gitarrenakkorden wird diesmal nicht gespart. Asiatische Stimmsequenzen, afrikanische Percussions, minimalistisch hingehauchte Passagen („Ghost“, „Night’s Too Dark“) und wilde psychedelische Einschübe („Al Sur“) – alles findet hier einen Platz und nichts ist beiläufig oder in seiner Wirkung dem Zufall überlassen.



Zu den überaus klug arangierten Sounds gesellt sich wieder Markus Achers zarte, ja fast übervorsichtige Stimme. Sein Gesang (mit dem eigenwillig deutschen Englisch) klingt stets so, als hätte er Angst, die Andacht der Zuhörer zu stören. Und doch macht erst er die Hypnotik der Songs perfekt, macht sie, tief eingebettet ins melancholische Moll, so anrührend. Apropos anrührend: Je öfter man diese neue Platte hört (und man kann das wirklich sehr, sehr oft tun), desto häufiger stellt man sich die Frage, ob es da draußen überhaupt jemanden geben könne, der sich von dieser Musik nicht einfangen ließe? Könnte man also (seltsamer Gedanke), die Musik der Formation nicht der Völkerverständigung nutzbar machen? Wohl wissend, wie albern und abwegig diese Idee auch klingen mag, im Grunde machen The Notwist als Kuratoren des Festivals „Alien Disko“ nichts Anderes. Und auch die Gäste auf „Vertigo Days“, seien es Saya Ueno, Ben LaMar Gay, Zayaendo oder auch Juana Molina (die der unkundige Rezensent gerade erst in der fabelhaften Netflix-Doku „Rompan Todo“ kennenlernen durfte), befeuern dieses Anliegen. Universeller als diese Band kann eigentlich keine sein, besser als auf diesem Album kann man das kaum verdeutlichen, schöner klingen tut dieser Tage ohnehin kaum etwas – ganz egal, wo man’s denn hört.

Donnerstag, 28. Januar 2021

Martin Gore: Der dritte Affe [Update]

Es gibt Dinge, die ändern sich nicht. So wie eben eine Rose immer eine Rose ist bleibt zum Beispiel ein Trump immer dumm, Kim Gordon die beste Bassistin und César Luis Menotti der wohl klügste Fussballtrainer aller Zeiten. Naturgesetze halt, unerschütterlich. Und wenn Martin Gore neue Musik macht, dann wird alles stehen und liegen gelassen und sofort ein Text aufgesetzt. Denn der Lockenkopf von Depeche Mode ist nicht nur deren weitaus sympathischstes, sondern auch kreativstes Mitglied und seine letzte Soloplatte "MG" mittlerweile so alt (2015), dass dringender Nachholebedarf bestand. Gore hat nun für Ende Januar tatsächlich eine 12" mit dem Namen "The Third Chimpanzee" bei Mute Records platziert, fünf neue Titel sollen sich darauf finden und wer die drei berüchtigten Affen vor Augen hat, der wird auch verstehen, warum die EP aus rein instrumentalem Material besteht. Nee, ist natürlich fürchterlicher Quatsch - die Story geht folgendermaßen: Gore hat kürzlich Jared Diamonds 1991 erschienene, populärwissenschaftliche Abhandlung "The Rise And Fall Of The Third Chimpanzee" gelesen, in welchem es um den Vergleich der Entwicklung des Menschen zu der seiner beiden Vorfahren, dem Gemeinen Schimpansen und dem Bonobo, geht. Wie gut wir da abschneiden, muss jede/r nun aber selbst nachlesen, wir dürfen jedoch verraten, dass alle Tracks auf Affennamen hören - neben der ersten Single "Mandrill" gibt es noch Stücke zu einem Kapuzineräffchen, der Grünmeerkatze und dem Brüllaffen. Womit wir wieder bei Donald ... - nein, da täten wir dann dem Primatentier doch sehr unrecht ...

Update: Mit dem Brüllaffen kommt nun der zweite Primat hinzu - hier also das Instrumental "Howler", vervollständigt um das Video des spanischen Regisseurs NYSU.






Ganser: Überraschungsbesuch

Da ist ihnen dann schon eine Überraschung gelungen: Von den Plänen, eine 12" mit Remixen ihres letzten (großartigen) Studioalbums "Just Look At That Sky" zu veröffentlichen, hatten wir hier ja schon berichtet. Begonnen hatten Ganser das Ganze mit einer Art Rätsel und der erste Kandidat - es war Ride-Gitarrist Andy Bell unter seinem Moniker GLOK - wurde Ende des letzten Jahres vorgestellt, seine Version von "Bags For Life" im gut siebenminütigen Rework war denn auch schon mal ein mächtiges Pfund. Auf die nächste Nennung wären wir jetzt so schnell nicht gekommen, mit dem heutigen Tag erscheint das Stück "Bad Form" in der Neubearbeitung von Sad13. Hinter dem eigenwilligen Namenskürzel verbirgt sich natürlich Sadie Dupuis, Leadsängerin der amerikanischen Indierock-Truppe Speedy Ortiz, die unter dem Alias auch schon die beiden Soloalben "Slugger" (2016) und "Haunted Painting" (2020) eingespielt hat, für Aufsehen sorgte vor allem ihr Einstieg "Basement Queens" zusammen mit Lizzo. Ein Buch, so ist zu erfahren, hat Dupuis mittlerweile auch geschrieben, nur als Remixerin ist sie bislang mehr als spärlich in Erscheinung getreten - möglicherweise ändert sich das jetzt.



Mittwoch, 27. Januar 2021

FKA twigs: Kunstaktion


Natürlich kann dieser Tag nicht zu Ende gehen ohne den neuen Song und das neue Video von FKA twigs. Das Herzklopfen war ja schon die letzten Tage zu spüren, denn ein neuer Track der Künstlerin kommt ja nie allein, sondern immer mit reichlich Content - zum Glück. "Don't Judge Me" also und ein Film von Emmanuel Adjei, dem Mann also, der gerade für Beyoncé "Black Is King" gedreht und auch mit seinen Arbeiten für Sevdaliza und Madonna für Furore gesorgt hat. Die Skulptur, die in seinem aktuellen Werk eine zentrale Rolle spielt, stammt von Kara Walker, nennt sich Fons Americanus und steht in der Tate Modern London. Mit dabei auf der neuen Single im Übrigen auch Headie One und Produzent Fred Again, weiterführende Infos zu einem etwaigen Album als Nachfolger von "Magdalene" (2019) gibt es bislang noch nicht.




Do Nothing: Sorgsamkeit

Erst kürzlich hatten wir uns ja über die prosperierende Musikszene im britischen Nottingham ausgelassen - Anlass war die neue Single der Tindersticks - und dabei ganz vergessen, dass auch Do Nothing aus dem Städtchen in den East Midlands kommen. Die vierköpfige Post-Punk-Formation war ja im vergangenen Jahr mit ihrer EP "Zero Dollar Bill" am Start, nun kündigen sie mit "Glueland" eine weitere 12" an - neben dem Titelsong gehört auch "Uber Alles" zu den vorab veröffentlichten Hörproben. Mit der kämpferischen Diktion der Dead Kennedys oder dem bekannten Taxiunternehmen hat der Song allerdings nichts zu tun, es geht laut Sänger Chris Bailey eher um den pfleglichen Umgang mit der eigenen Psyche - die restlichen drei Tracks dann am 12. März via Exact Truth.






Xiu Xiu: Menschenkenner

Na gut, wir geben zu, dass wir ganz kurz zusammengezuckt sind, als wir den Namen der neuen Single von Xiu Xiu gelesen haben: "A Bottle Of Rum". Jamie Stewart jetzt bei Tik Tok? Shanty Trend, echt!? War natürlich Quatsch, der Mann ist jedwedem Netzhype völlig unverdächtig und das bleibt zum Glück auch so. Denn der Song ist eben einer von fünfzehn des neuen Albums "OH NO", dass der Amerikaner heute via Polyvinyl für 26. März ankündigte. Aufgenommen hat er ihn zusammen mit Liz Harris, womit wir bei einer tatsächlichen Besonderheit der Platte wären, die als eine Ansammlung von Duetten daherkommt. Und so finden sich dort u.a. Gäste wie Sharon Van Etten, Alice Bag, Owen Pallett und Chelsea Wolfe, dazu Twin Shadow, Liars, Sheawater und einzelne Teile von Deerhoof. Klingt prächtig, klingt spannend. Und weil von Stewart immer auch Zumutungen zu erwarten sind, weil er bekanntermaßen ein (vorsichtig formuliert) sehr eigenwilliger Mensch ist, lesen wir folgenden Satz von ihm mit Erstaunen: "The guest stars of OH NO reflect the types of people, and many of the very same, who helped remind me that the ratio of beautiful humans to shitty humans is more like 60/40 rather than what I have always assumed was 1/99. Although there is an ‘I HATE PEOPLE’ pin on my guitar strap, I hate them less now."



Dienstag, 26. Januar 2021

Melby: Anhaltender Bedarf

Als im Frühjahr 2019 das Debüt der schwedischen Band Melby erschien, wußte noch kein Mensch von den Gefahren und Auswirkungen der Pandemie, dennoch ruft man sich den Titel gern ins Gedächtnis, einfach weil er wie ein Mantra wiederholt gehört: "None Of This Makes Me Worry". Dass sie im März des Folgejahres eine Single veröffentlichten, die "Things I Do When I'm Alone" hieß, bedeute nicht unbedingt, dass das Quartett leider doch in der Realität angekommen war, man konnte es aber vermuten. Dass Wiezell, Are Engen Steinsholm (Backing Vocals, Gitarre), David Jehrlander (Bass) und Teo Jernkvist (Schlagzeug) dennoch die wunderbar entspannte Grundstimmung ihrer Songs nicht verändert haben, macht sie gleich noch sympathischer, Schweres leicht nehmen ist eben nicht ganz so einfach und selten obendrein. Dem nächsten Song "Common Sense" folgte heute nun das Stück "Old Life" und es bleibt zu hoffen, dass Melby schnellstmöglich genug für ein weiteres Album zusammenbekommen - die Welt kann's gerade ganz gut brauchen.





Teenage Fanclub: Scottish Harmonists [Update]

Sie waren in den 90ern wohl die mit den schönsten Harmonien: Die schottische Band Teenage Fanclub um Bandgründer Norman Blake hatte bekanntlich ihre Glanzjahre deutlich vor der Jahrtausendwende, es gab einige schöne Alben und viele Hitsingles. Doch obwohl sie sich offiziell nie aufgelöst hatten, wurde es in den letzten Jahren seltsam still, die Alben nach dem 2000er "Howdy" konnten an den Erfolg der Vorwerke nicht mehr ganz anküpfen. Nun schickt sich das Quintett an, mit "Endless Arcade" im März kommenden Jahres ein neues Album zu veröffentlichen und die erste Single "Home" lässt vermuten, dass sie wohl die alten Zeiten wieder aufleben lassen wollen - nun, wir haben nichts dagegen einzuwenden. 

Update: Okay, das mit dem Album dauert nun noch etwas, "Endless Arcade" wurde gerade auf den 30. April geschoben. Dafür gibt es aber mit "I'm More Inclined" eine weitere Auskopplung zu hören und für 2022 (!) ein paar Konzerttermine.

27.04.2022  Hamburg, Knust
28.04.2022  Berlin, Columbiatheater
29.04.2022  Düsseldorf, Zakk
01.05.2022  München, Strom
02.05.2022  Mannheim, Alte Feuerwache







King Krule: Das richtige Gespür

Es gibt Songs, an denen haben sich alle Großen und natürlich auch die vermeintlich Großen schon probiert, sie kommen nicht daran vorbei und egal wie gut oder schlecht sie es machen, es musste halt sein. "Imagine" von John Lennon ist so ein Stück. Im vergangenen Dezember jährte sich bekanntlich (neben dem achtzigsten Geburtstag auch) zum vierzigsten Mal der Tag des Attentats und entgegen aller Versuche, das Stück zu Tode zu nudeln oder gar zu verunglimpfen (2001 wurde es in den USA sogar für kurze Zeit von einem US-amerikanischen Radiokonzern gesperrt) und seine Fans als blauäuige Gutmenschen ebenso - es ist ein Song für die Ewigkeit geblieben. Madonna hat ihn nicht kaputt bekommen, auch Bono hat er überlebt und wenn jetzt Archy Marshall aka. King Krule Hand an ihn legt, haben wir gleich gar keine Bedenken. Der Junge hat einfach ein so ungemein feines Gespür für das richtige Arrangement, dass das Lied bleibt, was es ist: Eine Vision und eine Verbeugung gleichermaßen.

Montag, 25. Januar 2021

Permo: Perspektivwechsel

Hier ist dann allerdings Schluss mit Beschaulichkeit: Diese drei Herren wollen offensichtlich nicht groß debattieren, sondern lieber vorwärts machen. Und vorwärts heißt bei Ross Ferguson (Gesang/Gitarre), Hamish Georgeson (Bass) und Ross Malcolm (Drums) aus dem britischen Falkirk einfach mal Punk. Ihre Band Permo hat im Januar 2020 die erste Single "Bloodlust" veröffentlicht, im Dezember des gleichen Jahres folgte "Ultraviolence" und jetzt "Heroin". Zu letzterer sagt Georgeson: "It’s written from the perspective of someone looking at their friend's relationship and seeing they’re trapped and can’t seem to stop going back to this girl who treats them like shit." Als Vorbilder geben die drei übrigens - leicht nachvollziehbar - die Idles und die Heavy Lungs zu Protokoll, erschienen sind die drei Stücke allesamt auf dem Label Disobedient Records.

Billy Nomates: Erhöhte Alarmbereitschaft

Die Briten erwischt es ja momentan bekanntlich doppelt hart - zu der ohnehin schon schlimmen Pandemie werden sie dazu auch noch von den Folgen des Brexit gebeutelt und leider eben nicht nur die, welche den Austritt aus der EU befürwortet haben, sondern auch seine Gegner*innen. Billy Nomates dürfte zu den entschiedenen Remainers gehören, die bewundernswerte und kämpferische One-Woman-Show hatte ja mit ihrem Debütalbum im vergangenen Jahr (Invada Records) zu Recht für viel Aufsehen gesorgt. Dennoch, und das ist das Bittere an dem Erfolg, muss sie sich nun ebenso in ihrer Arbeit einschränken wie so viele andere Musiker*innen in ihrem Land und man kann nur inständig hoffen, dass sie in ihrem zum Produktionsstudio umgebauten Schuppen nicht die Zuversicht auf bessere Zeiten verliert. Ein Schritt vorwärts aus dem lähmenden Gefühl des Alleinseins jedenfalls kommt heute von ihr - für den 5. März ist die Veröffentlichung ihrer nächsten EP "Emergency Telephone" angekündigt. Vier neue Tracks befinden sich auf der 12", neben dem Titelsong noch die Stücke "Right Behind You", "Petrol Fumes" und "Heels", letzteren gibt es jetzt schon als Video und Stream vorab. Die ersten Termine ihrer kleinen Europatournee werden in den nächsten Wochen wohl leider auch nicht stattfinden können, es bleibt ihr neben dem Zuspruch von Freunden also nichts anderes übrig, als noch eine Weile durchzuhalten.


Sleaford Mods: Beharrlichkeit vs. Veränderung [Update]

Sleaford Mods
„Spare Ribs“

(Rough Trade)

Auf Netflix gibt es gerade eine sechsteilige Dokumentation mit dem Titel „History Of Swear Words“. Die einzelnen Folgen lauten (kein Scherz!) „Fuck“, „Shit“, „Bitch“, „Dick“, „Pussy“ und „Damn“, moderiert werden die Erläuterungen honoriger Wissenschaftler und bekannter Celebrities von Schauspieler Nicholas Cage. Über den näheren Sinn einer solchen Filmreihe darf gestritten werden, gleich nachdem Cage mit einer Art Urschrei das erste Tabu gebrochen hat – man kann die zartbesaiteten Zuschauerseelchen auf der Couch richtig zusammenzucken sehen, wenn es hier angeblich mal richtig zur Sache geht. Allerdings fragt man sich spätestens nach ein paar Minuten, wo denn in dieser illustren Besetzung Jason Williamson, Frontmann der Sleaford Mods abgeblieben ist – kaum ein Künstler dieser Tage hat das Fluchen so sehr wie er zur poetischen Kunstform erhoben, keinem ist es so sehr Markenzeichen geworden und wollte man seine Songs im amerikanischen Radio spielen, sie müssten wohl als einziger, langer Piepton enden.

Doch natürlich ist das keine wirkliche Frage und schon gar kein ernsthaftes Problem. Denn wo auf der einen Seite der verlogene Grusel einer bigotten Gesellschaft steht, die sich mit solch vermeintlicher Aufklärung kurz mal mutig fühlen will, stehen die Sleaford Mods seit Jahren und immer noch für ehrliche Entrüstung, für anhaltende Wut aus tiefstem Herzen, der Williamson schonungslos grimmige Worte verleiht. Mittel zum Zweck, künstlerische Ausdrucksform also, die Songs des Duos sind nicht prinzipiell böse, sondern weil sich Williamson partu nicht mit den bedauernswerten Zuständen in seiner Heimat abfinden will und mit denen, die sie verschuldet haben. Deshalb greift der Vorwurf der Wiederholung auch für dieses, ihr offiziell sechstes gemeinsames Album zu kurz – denn an der gesellschaftlichen, sozialen und kulturellen Krise in England und Europa hat sich ja nichts wirklich geändert, im Gegenteil, Brexit und Pandemie wirken quasi als Brandbeschleuniger und machen die katastrophalen Mängel um so sichtbarer.



Kein Grund also für Williamson, in seinem Furor nachzulassen, seine Texte mögen weniger laut und proklamatorisch geworden sein, bissig und scharf am Rande des Zynismus sind sie geblieben. Seine Abneigung für die politischen Eliten des Landes gibt es gleich in einer Art Eingangsmonolog zu hören („And we're all so Tory tired and beaten by minds so small“) und findet im Spottgesang auf Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings („Shortcummings“) seine treffliche Fortsetzung. Die wunderbare Single „Nudge It“ (eingespielt mit Amy Taylor) rechnet mit Posern und Mitläufern ab, „Elocution“ nimmt Kollegen auf’s Korn, die sich von Staat oder Industrie vor den pseudosozialen Karren spannen lassen. Gnadenlos, bilderreich und pointiert, Williamsons Lyrik, die ja nicht zu Unrecht auch schon diverse Male in Buchform erschienen ist, hat an Facetten eher dazugewonnen und nichts von dem Humor verloren, der auch bereit ist, sich selbst nicht so furchtbar ernst zu nehmen.

Hinzu kommt seine Fähigkeit, das eigene Tun zu hinterfragen, eine Eigenschaft, die gerade in Zeiten selbstgerechter Verurteilungen mittels sozialer Medienschelte verlorengegangen scheint und auch unter Musikern nicht eben häufig ist. Dem Netzportal The Quietus hat Williamson kürzlich ein sehr aufschlussreiches Interview gegeben, in welchem er seltenen Einblick in seine eigene Psyche zulässt, von seinen inneren Kämpfen und Anstrengungen erzählt, wenn es um sein Verständnis von Männlichkeit und das Verhalten Frauen gegenüber geht. So sagte er dort: „We're in such a backdrop of cynicism, I'm just as bad, I've made a living out of it. I'm quite clearly not looking for fucking praise. It means a lot to me to try and understand my attitude towards women and how that has changed in light of the fact that I wanted to change. I've still got a lot of work to do but I don't think I'm as heinous as I was, and I think it's important sometimes to say shit like that isn't it?“ Klare Worte, selten gehört.



Auch wenn sich inhaltlich aus den genannten Gründen nicht nennenswert viel ändern konnte, so haben die Sleaford Mods doch an ihrem Sound einiges gedreht. Der von den beiden eher als einengend empfundene, kantig-harsche Post-Punk weicht seit dem Vorgänger „Eton Alive“ zugunsten minimalistischer Dancetunes, was dort mit dem schwer groovenden „Kebab Spider“ seinen Anfang nahm, kulminiert hier gleich in vielerlei Gestalt, etwa bei „Nudge It“, „Mork N Mindy“, „All Day Ticket“ oder dem technoiden Beat von „I Don’t Rate You“. „We're musicians first and foremost, we're not just angry men, we got into this to write music“, so Williamson in besagtem Gespräch, „we love pop music and I don't see why we can't push it further.“ Das große Kompliment, den Spagat zwischen alt und neu geschafft zu haben, gebührt natürlich Andrew Fearn, der mit „Spare Ribs“ eine bemerkenswerte Arbeit abgeliefert hat. Dazu gehören auch Überraschungen wie das klug und überaus zurückhaltend arrangierte „Top Room“ und der Closer „Fishcakes“, fast ein Zwilling zu „When You Come Up To Me“ vom Vorgänger. Es ist also, in Summe, ein neuerliches Meisterstück geworden. Schon wieder. 

Update: Nachdem die phänomenale Platte auch in den deutschen Albumcharts unerwartet grandios durchgestartet ist, dürfte auch auf den gerade bekannt gegebenen Tourterminen hierzulande einiges mehr los sein - deshalb also ranhalten, am Freitag ist VVK. Here we go...

24.03.2022  Hamburg, Gruenspan
31.03.2022  Zürich, Mascotte
01.04.2022  München, Neue Theaterfabrik
02.04.2022  Berlin, Columbiahalle
03.04.2022  Köln, Live Music Hall

Freitag, 22. Januar 2021

Steiner und Madlaina: Mit Nachdruck

Steiner und Madlaina
„Wünsch mir Glück“

(Glitterhouse Records)

Die kleingeistige Rückständigkeit mancher Männer ist ja leider eine internationale und als solche nur schwer zu ertragen. Ob Trump, Weinstein, Strauss-Kahn oder Blocher, immer wieder auf’s Neue verwundert einen die Ignoranz und Arroganz derer, die sich qua Geburt für das starke Geschlecht halten und doch so arm an Geist und Empathie sind, dass man nicht weiß, ob man traurig, wütend oder angeekelt sein soll, ein ums andere Mal. Dass es hierzulande nicht anders bestellt ist, fällt dabei kaum mehr ins Gewicht, noch vor der Pandemie füllten die ranzigen, präpubertären Witzchen eines Mario Barth ganze Stadien und gerade erst wollte sich allen Ernstes einer zum Kanzlerkandidaten ausrufen lassen, der einen Chauvinisten nicht einmal dann erkennt, wenn er ihm morgens beim Rasieren aus dem Spiegel entgegenblickt. Grund zur Verzweiflung wäre also genug vorhanden, damit man dies nicht tun muss, braucht der Mensch Notanker. Und solche waren in den letzten Jahren verlässlich die Lieder von Nora Steiner und Madlaina Pollina.

Ihr Debüt „Cheers“, 2018 bei Glitterhouse erschienen, war so übervoll von all dem, was unser Leben ausmachen kann, wenn es denn authentisch ist, wenn wir es zuzulassen bereit sind: Aufgebracht waren die Lieder, lustvoll, verschwenderisch, sie kannten Zweifel und Schwächen, Enttäuschungen, Einsamkeit, aber auch die Liebe, die Zusammengehörigkeit, die Hoffnung und zügellose Freude. „Cheers“ kam aus dem Herzen, das spürte man sofort und das hielt an, auch wenn man die Platte zu einem späteren Zeitpunkt wieder auflegte, plötzlich dringend brauchte, weil um einen herum alles so schabloniert, so vorhersehbar war. Und eben weil dieses Album so großartig war, lautet die bange Frage jetzt, da der Nachfolger erscheint: Wird es uns mit ihm genauso ergehen, wird uns „Wünsch mir Glück“ ähnliche Dienste erweisen können?



Nun, abschließend möchte man das jetzt noch nicht beurteilen, nach den ersten Runden tendieren wir aber eher zu einem „ja, aber…“ Die Lieder, die einen im Sturm nehmen und umhauen, die hat es noch immer. „Prost mein Schatz“ besingt die Unwägbarkeiten, die (Selbst)Zweifel und Zwischentöne, ist übervoll an Melancholie und sucht den Trost, „Und die bin ich“ und „Klischee“ beschwören das Selbst, erzählen von der Schwierigkeit, gegen Vorurteile, Fremdbilder, Erwartungen anzukämpfen, sich zu mögen, wie man ist. Mal traurig und frustriert, mal trotzig und zornig. Und dann das unglaubliche „Denk was du willst“ – ein Blick in den Abgrund, gierig, gewaltig, zerstörerisch, und trotzdem so schön, dass es wehtut.



Woher also dann die Einschränkung? Nun, vielleicht hatten wir uns allzu sehr an die Innerlichkeit in den Songs der beiden gewöhnt, mit Rock, mit einer gewissen Schnoddrigkeit, sogar ein paar politischen Parolen nicht gerechnet? Wollten lieber leise Töne und bekommen dagegen auch mal vordergründig Lautes, Plakatives? In die „Heile Welt“ über die schweizerische Unart mischen sich fast schlagerhafte Töne, „Wenn ich ein Junge wäre“ möchte auf ungewohnte Weise böse losrocken, klingt dabei aber leider gar nicht mehr so einzigartig, an anderer Stelle wieder ein „Lalala“ zu viel und ein paar Beiläufigkeiten, die man von ihnen nicht hören wollte. Und trotzdem: Steiner und Madlaina bleiben auf ihre Art eigenwillig, setzen Reize, Reibungspunkte. Und wenn sie die Besinnlichkeit nun zuweilen drangeben für ungeduldiges, forsches Drängen, für Unmut und ein paar bittere Worte, dann haben sie – siehe oben – wohl Grund genug dazu.

02.11.  Stuttgart, Im Wizemann Club
03.11.  München, Ampere
05.11.  Magdeburg, Moritzhof
06.11.  Dresden, Beatpol
08.11.  Hamburg, Knust
09.11.  Bremen, Tower
10.11.  Münster, Gleis 22
11.11.  Essen, Zeche Carl
12.11.  Köln, Gebäude 9
17.11.  Freiburg, Jazzhaus
19.11.  Wien, Chelsea
20.11.  Nürnberg, Korns
22.11.  Wiesbaden, Schlachthof
23.11.  Hannover, Musikzentrum
25.11.  Leipzig, Täubchenthal
26.11.  Erfurt, HsD
27.11.  Berlin, Hole44

Michaela Meise: Wider das Vergessen

Würden wir behaupten, es wäre ihr wichtigstes Anliegen, das sie da besingt - Michaela Meise würde wohl sofort widersprechen. Und natürlich hätte sie Recht, schließlich waren auch zwei ihrer letzten Werke mit einer gewissen Dringlichkeit, einem persönlichen Anliegen versehen. Mit "Preis dem Todesüberwinder" gelang der Künstlerin 2010 eine Überraschung, sang sie darauf doch unter Mithilfe von Produzent Thies Mynther (und damals noch für Cloud Hills) sieben bekannte Kirchenlieder ein und verschaffte ihnen so eine unerwartete Auffrischung, einen neuen Subtext. 2018 wiederum erschien ihr Album "Ich bin Griechin" bei Martin Hossbach, Eigenkompositionen und Neubearbeitungen, meistenteils düster, thematisierten die Themen Flucht, Heimat, Leid und Widerstand. Beileibe nichts Nebensächliches also. 

Vielleicht könnte man sich ja auf das Naheliegendste, Aktuellste einigen. Michaela Meise kommt aus Hanau und auch wenn es nicht wenige gern verdrängen würden - fast auf den Tag jährt sich heute der rassistische Anschlag, bei dem am 20. Februar 2020 zehn Menschen ums Leben kamen. Die Aufarbeitung gestaltet sich zäh bis unbefriedigend, Angst ist noch immer gegenwärtig (man liest von befremdlichen Auftritten des Vaters des Attentäters) und deshalb ist es an uns, wach zu bleiben und in Erinnerung zu behalten, was möglich war und leider noch immer möglich ist. Michaela Meise tut dies auf ihre unvergleichliche Art ab heute mit dem Lied "Cemalim", einer in Deutsche übersetzten Bearbeitung eines Songs des türkischen Musikers Erkin Koray von 1973, der wiederum auf einer Totenklage des Dichters Rafik Basaran beruht.

Four Tet vs. Madlib: Augen und Ohren auf [Update]

Da darf man ruhig schon mal vorfeiern: Gerade haben Kieran Hebden alias Four Tet und Rap-Schwergewicht Madlib ein kollaboratives Album namens "Sound Ancestors" angekündigt und es empfiehlt sich, diese Arbeit sehr genau im Blick zu behalten. Nicht nur, weil Hebden ein begnadeter Frickler und Tanzmusiker (sagt man so?) ist, sondern auch, weil vor nicht einmal einem Monat aus traurigem Anlass eine andere Zusammenarbeit Madlibs ins Rampenlicht zurückkehrte, die im Jahr 2004 für Furore sorgte. Da nämlich erschien mit "Madvillainy" ein wahrer Glücksfall von einem Joint Venture zwischen Daniel Dumile aka. MF Doom und Madlib als Produzent - MF Doom ist bekanntermaßen am 31. Oktober 2020 überraschend verstorben. Nun also ein mutmaßlich weiterer Lichtblick, von dem bislang zwei Tracks bekannt sind, einerseits "Hopprock" und zum anderen "Road Of The Lonely Ones", am 29. Januar kommen dann die restlichen vierzehn Stücke auf dem Label Madlib Invazion dazu. Eingrooven? Bittesehr ...

Update: Nachschub wie gewünscht - hier nun der Track "Dirtknock" mit feinem Bassloop.


 

Donnerstag, 21. Januar 2021

Billie Eilish x Rosalía: Filmreifer Stoff

Einen haben wir natürlich noch und zwar den Song, der wohl in der letzten Zeit den längsten Anlauf genommen hat: Schon 2019 hatten Billie Eilish und Rosalía von einer Zusammenarbeit gesprochen, eine war so begeistert von der anderen, nur die Fans mussten lange durchhalten. Bis nun heute endlich das Ergebnis kam. Für eine gesonderte Folge der HBO-Serie "Euphoria" von Sam Levinson haben die beiden also den Song "Lo Vas A Olvidar" aufgenommen, eine sehr ruhige Ballade, gesungen in Englisch und Spanisch - das Video stammt im Übrigen von Nabil Elderkin (Travis Scott, SZA, Alt-J, FKA twigs).




Weezer: Noch nicht fertig

Wir wollen Herrn Cuomo sicher nicht zu nahe treten, aber die großen Zeiten seiner Kapelle Weezer sind, da wir bald alle Farben und Riffs zusammen haben, wohl so ziemlich vorüber. Das ist nicht sonderlich schlimm, gibt es doch mit den bereits erschienenen Platten (ca. dreizehn) ein ausreichend großes Reservoir an ordentlich scheppernden Rocksongs, quasi für jede Gefühlslage den passenden. Und dennoch, die Band macht das, was sie am besten kann - also einfach weiter. Und so wird am 29. Januar bei Crush Music das nächste Album erscheinen, "OK Human" heißt es und weil sich die erste Single "All My Favorite Songs" in Sachen Instrumentierung doch etwas abhebt vom Rest und von einem überaus charamanten Video begleitet wird, wollen wir ihn entgegen unserer Gewohnheit doch mal vorstellen - Spaß geht schließlich vor. Und sollten sich nach der Veröffentlichung noch immer Leute finden, denen auch das nicht reicht - kein Problem, im Mai schieben Weezer noch ein zweites Opus mit dem Titel "Van Weezer" hinterher.


Mittwoch, 20. Januar 2021

Remixkultur: Endlich ein paar Extravaganzen

Sollte es tatsächlich so sein, dass Musiker*innen sich wegen des Lockdowns intensiver um die verschiedenen Erscheinungsformen ihres eigenen Werkes bemühen, dann wäre das wirklich einer der ganz seltenen positiven Begleitumstände der Pandemie. Was genau das heißt? Nun, die Remixkultur lag in den letzten Jahren bekanntlich im Argen, ein paar leidige Coverversionen und House-Variationen waren da das höchste der Gefühle, Einfallslosigkeit rules. Sieht ganz danach aus, als würde sich das langsam ändern, denn immer mehr Künstler*innen verschiedenster Genres und Stilrichtungen scheinen Gefallen an Neubearbeitungen und Dekonstruktionen zu finden. Vor einigen Wochen hatten wir schon über eine verheißungsvolle 12" der Band Ganser aus Chicago berichtet, auf welcher sich fünf Reworks des aktuellen Albums "Just Look At That Sky" befinden werden - nimmt man nun die letzten Tage als Beispiel, dann stehen die Chancen, dass dies kein Einzelfall ist, nicht so schlecht. Gerade nämlich haben sich Soulwax des Titelsongs der letzten Platte der Fontaines D.C. "A Hero's Death" angenommen, dazu finden wir weitere Beispiele mit Boy Harsher für Perfume Genius, Autechre meets Sophie, Dan Deacon hat sich der Future Islands in Überlänge angenommen, diese wiederum schauten auf einen Arbeitsbesuch bei Matt Berninger vorbei.









Tindersticks: Die andere Variante

Wenn in den letzten Tagen und Wochen von der englischen Kleinstadt Nottingham die Rede war, dann ging es völlig berechtiger Weise einzig und allein um die stets genialen Schimpfkanonaden der Sleaford Mods. Dass dieser Ort durchaus auch für ruhige, ja verinnerlichte Musik steht, geriet dabei etwas aus dem Blick - bis vor kurzem jedenfalls. Denn Ende 2020 kam die Nachricht von einem neuen Album der Tindersticks über den Ticker und die haben mit dem grimmigen Dance-Sound von Team Williamson/Fearn nur bedingt etwas gemein. Über die leidigen Zustände vor der eigenen Haustür wissen allerdings auch diese fünf Herren bestens Bescheid und so hieß die erste Single "You Have To Scream Louder", was sicher nicht an die Mods, sondern die gesammelte Zuhörerschaft gerichtet war. Die neue Platte "Distractions", für den 19. Februar bei City Slang gelistet, sollte nicht nur wegen dieses explizit politischen Statements eine ungewöhnliche werden (2019 ist die letzte Platte "No Treasure But Hope" erschienen), denn auch die zweite Single "Man Alone (Can't Stop The Fadin')" ist anders - für Staples' Verhältnisse spektakulär lang (gute elf Minuten) und sehr elektronisch. Für Abwechslung und Spekulation dürfte also reichlich gesorgt sein, Vorfreude ist ohnehin zur Genüge vorhanden.






Dienstag, 19. Januar 2021

TRZTN: Geheimnisvolle Reise

Berauschende Soundlandschaften, mal magische, mal simpelste Bildgeschichten - trotzdem hatte man Tristan Bechet fast schon vergessen (auch wenn er für Spike Jonze doch den Score von "Where The Wild Things Are" übernommen hatte): Vor drei Jahren war unter seinem Moniker TRZTN ein Track namens "Black Exit" erschienen, gesungen wurde er von Paul Banks, dem Frontmann der New Yorker Wavekapelle Interpol, die Regie zum Clip stammte von Tim Richardson. Im Abbinder damals der Hinweis, das Stück stamme vom Album "Royal Dagger Ballet", das am 22. Januar 2021 erscheinen solle. Nun, das Geschehen über einen so langen Zeitpunkt im Blick zu behalten, ist schlichtweg unmöglich, irgendwann war er vom Radar und als im letzten Jahr "Metal Sky" gemeinsam mit der japanischen Künstlerin Eiko Hara und "Ruby's Wheel" feat. Yesh nach langer Unterbrechung folgten, waren die Zusammenhänge schon sehr unscharf. Anfang Januar jedoch gelangte das alles wieder in den Fokus, weil zunächst "Crosswinds" featuring Estrael Boiso und heute dann, wenige Tage vor Veröffentlichung des Werks, die neue Single "Hieroglyphs" via Brooklyn Vegan im Netz auftauchten, hier Gesang Karen O. (Yeah Yeah Yeahs), Regie Barnaby Roper, Tanz Victoria Dauberville. Nun, am Freitag hat das Warten endlich ein Ende, dann muss es kommen, das Album.









Masha Qrella: Vertontes Vermächtnis [Update]

Es gibt immer noch Nachrichten, die einen unvermittelt erwischen und sogleich elektrisieren. Wie die des Berliner Labels Staatsakt. Dort nämlich wurde gerade bekanntgegeben, dass die Künstlerin Mariana Kurella, besser bekannt unter ihrem Pseudonym Masha Qrella, im Februar kommenden Jahres eine neue Soloplatte veröffentlichen wird. Wer die Arbeiten dieser umtriebigen Musikerin und Songschreiberin kennt, dem/der wird dies allein schon zur Vorfreude reichen, wirklich spannend aber sind die Notizen zu Inhalt und Entstehungsgeschichte des Doppelalbums. Denn das neue Werk fußt auf einer literarischen Entdeckung und Leidenschaft - Kurella hat vor ungefähr acht Jahren den biografischen Roman "Ab jetzt ist Ruhe" der Autorin und Radiomoderatorin Marion Brasch in die Hände bekommen und darüber nicht nur die beeindruckende und bewegte Lebensgeschichte der ganzen Brasch-Familie wiederentdeckt, sondern auch einen neuen Zugang zum lyrischen Werk des großen ostdeutschen Poeten Thomas Brasch gefunden. Und das wiederum hat einen so nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen, dass sie nun ihren elektronischen Postrock-Sound mit Braschs Texten kombiniert.

Herausgekommen ist "Woanders" - siebzehn Stücke in deutscher Sprache, die von Entfremdung, Suche nach Orientierung und Halt, von Verlorenheit und deutscher Tristesse erzählen. Und die sie 2019/2020 auch schon diverse Male live aufgeführt hat. Unterstützt wurde sie bei dem Projekt und den folgenden Studioaufnahmen nicht nur vom Suhrkamp-Verlag, sondern musikalisch auch von Chris Imler, Tarwater und Andreas Bonkowski, am Mikrophon waren u.a. Dirk von Lowtzow und Andreas Spechtl zu Gast und selbst Marion Brasch hat einen kurzen Text beigesteuert. Jedem und jeder, der/die sich etwas eingehender mit Braschs Gedichten, mit seinem Leben und der dazugehörigen Tragik beschäftigt hat, vielleicht sogar das Glück hatte, Marion Braschs Lesereise-Performance oder vielleicht sogar einen von Kurellas Auftritten in den letzten Monaten zu erleben, wird sofort klar, dass dieses Unterfangen ein ungemein schwieriges gewesen sein muss. Zugleich kann auf diese Herausforderung, quasi als die Summe der einzelnen Teile, nur Beachtliches, Wunderbares in Form ebenjener Veröffentlichung folgen. Einen ersten Vorgeschmack bietet die Vorauskopplung des Stückes "Geister", wie man vom Label erfährt, geht Masha Qrella mit dem kompletten Programm, sobald es die äußeren Umstände denn erlauben, nochmals auf eine ausgiebige Clubtour. Wir können's kaum erwarten!

Update: "Vom Blauen und vom Dunkeln kommen die Worte her, vom Dunkeln und vom Blauen und werden immer mehr, im Dunkeln und im Blauen, geht Lächeln aus und ein, im Blauen und im Dunkeln wird wohl auch Weinen sein..." - ein weiterer Song vom neunen Album mit dem Titel "Blaudunkel".

Immer noch legendär - Thomas Braschs Rede zur Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 aus den Händen von Franz Josef Strauß, so auch zu sehen auf Marion Braschs Leserreise im vergangenen Jahr.

Nilüfer Yanya: Pop subversiv [Update]

Wir geben zu, wir waren in der Tat sehr glücklich, im Oktober wieder von ihr zu hören. Denn ihr wunderbares Album "Miss Universe" hatte uns mächtig angefixt - die raue, dunkle Stimme, die so gern etwas schief daherkommt und einen dennoch gleich packt, die crispy Gitarren, die Melodien, das alles war wie gemacht für Ohrwurmfutter auf Dauerschleife. Nilüfer Yanya stellt die berüchtigte Floskelfrage also für diese, ihre dritte EP an ihre Zuhörer*innen und natürlich auch an sich selbst. Drei Songs bietet die neue 12", die das Thema Glück von verschiedenen Seiten beleuchten wollen. Die Single "Crash" machte den Aufschlag und schon mit den ersten Akkorden wurde klar, dass die Pause keineswegs verschenkte Zeit war. Wie Gesang und stolpernde Beats hier langsam zu einem Rhythmus finden, das hebt den Song ab vom mittelmäßigen Singalong mancher Kolleg*innen. Und auch "Same Damn Luck" und "Day 7.5093", letzteres kennen wir schon vom Tiny Desk Concert von NPR, sind alles andere als alltäglich, sondern laufen eher unter subversivem Pop. Nachdenkliches ansprechend verpackt, darum geht es auch auf diesem Kurzformat, sie selbst sagt dazu: "One of the songs had the theme of luck in it as a concept but then I realised they all do. That got me thinking about luck in general; good and bad. Things out of our control and things in control of us, how often we put acts and happenings down to the fortune of good luck or bad luck when things exceed our expectations or don’t go according to plan." Drei Lieder für die Zwischenzeit und die große Hoffnung, dass 2021 mit mehr zu rechnen ist. Wenn wir Glück haben ...

Update: Gern wollen wir noch das aktuelle Video zum Song "Day 7.5093" nachreichen, stimmungsvolle Tourbilder aus besseren Zeiten von Molly Daniel.





Montag, 18. Januar 2021

EUT: Nicht unterzukriegen

Wiedergänger in Sachen gut gemachter Popmusik sind EUT, niederländisches Quintett aus Amsterdam. Seit 2016 spielen Sängerin Megan de Klerk, Tessa Raadman (Gitarre), Emiel de Nennie (Gitarre), David Hoogerheide (Bass/Keyboard) und Jim Geurt an den Drums zusammen, 2019 gab es das Debütalbum "Fool For The Vibes" und kurz danach war bekanntlich schon wieder Schluß mit lustig. Frohnaturen, die sie aber nun mal sind, denken sie gar nicht daran, sich die Stimmung vermiesen zu lassen und nennen deshalb ihre neue Platte einfach "Party Time" (VÖ 19. Februar), ganz so als wollten sie die Welt beschwören, aufzuwachen und endlich wieder zur Normalität überzugehen. Ganz so einfach ist das natürlich nicht, aber wenn man sich den kürzlich erschienenen Titelsong, "Killer Bee" und das gerade nachgeschobene "Cool" anhört, bekommt man nicht übel Lust, schnurstracks alles stehen und liegen zu lassen und wild hüpfend den traurigen Umständen zu trotzen.








Sonntag, 17. Januar 2021

Kino Motel: Viele Möglichkeiten

Karrieremöglichkeiten sollte man sich, auch als vielversprechende/r Musiker*in, immer offen halten, sei es als Filmstar, Produzent oder Ganove - man weiß ja nie, was das Leben noch so bringt. Ed Fraser und Rosa Mercedes sind irgendwie alles in einem. Getroffen haben sich die beiden in einer Berliner Wohngemeinschaft, es folgten gemeinsame Reisen und irgendwo in Vietnam sind sie dann, so wird erzählt, in einer Karaokebar gelandet, wo sie ausgiebig miteinander gesungen haben. Daraus ist wohl der Wunsch entstanden, es doch mit einem richtigen Bandprojekt zu versuchen und so kam es zur Geburt von Kino Motel, einem Trio ergänzt um Drummerin Josefine Rundsteen. Ihre Lust an fremden Welten und Actionkino haben Mercedes und Fraser dann der Einfachheit halber in die Visualisierung ihres ersten offiziellen Songs gepackt und so tauchen beide für das Video zu "Waves" (Oktober 2020) aus geheimnisvollen Gründen in eine düstere Großstadtszenerie, treffen den sonnenbebrillten Boss, Kampfkünstler Cici und andere Gestalten und auch Karaoke spielt eine kleine Nebenrolle. Wen das alles an die Filme von Robert Rodriguez und den staubig-verschwitzten Sound von Tito And Tarantula erinnert, liegt da sicher nicht so falsch, die beiden nennen es dusty melancholic gritty pop. Der Clip zum neuen Song "Simple Desire" soll übrigens als Sequel kommen, wir reichen ihn natürlich nach sobald vorhanden.



Samstag, 16. Januar 2021

The Notwist: Fragen stellen [Update]

Zu diesen Herren sollte man nun wirklich nicht mehr viel erklären müssen, The Notwist aus Weilheim sind hierzulande eine Institution von internationalem Rang, letzteres können bekanntlich nicht viele Künstler aus Deutschland von sich behaupten. Erst in einer der letzten Ausgaben der Spotlights hatten wir von ihrer neuen EP "Ship" berichtet, der ersten aktuellen Wortmeldung nach dem fabelhaften Studioalbum "Close To The Glass" aus dem Jahr 2014. Nun wissen wir, dass Größeres folgen wird, denn gerade hat die Band um Marcus und Michael Archer die Veröffentlichung einer weiteren Studioplatte namens "Vertigo Days" via Morr Music bekanntgegeben. Und dort finden sich neben besagtem "Ship" noch dreizehn weitere Stücke, so auch Kollaborationen mit Juana Molina, Zayaendo, Ben LaMar Gay und Angel Bat Dawid, was genau für die Art von Vielfalt steht, die man von The Notwist auch als Kuratoren ihrer Festivalreihe Alien Disco kennt. Thematisch will das neue Album einiges in Frage stellen, die Band meint in den Linernotes dazu: "We wanted to question the concept of a band by adding other voices and ideas, other languages, and also question or blur the idea of national identity." Das nächste Beispiel dazu heißt übrigens "Where You Find Me" und kommt hier im Stream.

Update: ...und gleich gefolgt von "Al Sur", eingespielt gemeinsam mit der agentinischen Künstlerin Juana Molina.



Disarstar: Keine Reise [Update]

Über seine Pläne hatten wir ebenfalls erst kürzlich berichtet - der Hamburger Disarstar hatte ja zusammen mit der Veröffentlichung seiner neuen Single "Sick feat. Dazzit" das nächste Album "Deutscher Oktober" angekündigt. Und schickt nun einen weiteren, düsteren Track hinterher - "Australien" ist alles andere als eine Reisebeschreibung für Insta-Junkies, sondern derbe Reimarbeit über fehlende Chancen und verpasste Gelegenheiten, über Ungerechtigkeit und Vorurteile.

Update: Fast verpasst - neuer Track "TRAUMA" feat. Nura, Regie Tim Erdmann ... und nun packen wir noch "Nachbarschaft" obendrauf plus anständigem BILD-Diss und endlich ein Cover.





AUA: Auf Entdeckungsreise [Update]

AUA
"I Don't Want It Darker"

(Crazysane Records)

Auf der Suche nach einer Referenz, um Uneingeweihten diese Musik näherzubringen, stößt man auf ein anderes Duo, dessen Klangkosmos zu Hochzeiten ähnlich umfangreich war, das sich also, um im Bild zu bleiben, ebenfalls in entferntere Galaxien vorwagte. Heißt: Wer AUA meint, darf auch AIR sagen. Denn auch bei den Herren Godin und Dunckel hatte man den Eindruck, sie liebten es, ihre Zuhörer*innen in neue Welten zu entführen und hätten so viel Spaß am Experimentieren, dass sie bewusst jede ihrer Platten mit einem neuen Sound versahen. Nun, AUA haben mit diesem Debüt erst ein Album veröffentlicht, beweisen darauf aber auch schon eine ähnlich große Bereitschaft, verschiedenste Stile miteinander zu kreuzen. So begegnen uns in der halben Stunde Spielzeit wabernde Psychedelia, Krautrockanleihen, Darkwave-Verweise und auch bei Synthpop und Surfrock haben sich Henrik Eichmann und Fabian Bremer ihre Ideen geholt. Sie zeigen sowohl ihre Vorliebe für sphärische Klangflächen ("The Energy Vampire") als auch für den eingängigen, punktgenauen Beat ("Coke Diet"). Und auch der Spaß kommt nicht zu kurz, wenn sich zu den forschen Gitarren von "Umami Karoshi" ganz am Ende noch ein paar irrlichternde Spukgeräusche aus den B-Movies der 60er mischen. Diese wiederum brechen ein wenig die Ersthaftigkeit der beiden Musiker und unterstreichen so die Aussage in der Titelzeile des Albumnamens. Und die wollen wir ja immer noch hartnäckig als Entgegnung auf den altehrwürdigen und maximal eleganten Großmeister der Dunkelheit, Leonard Cohen, verstanden wissen. Diese Platte jedenfalls ist zweifellos ein Kleinod, kurz zwar, aber sehr unterhaltsam.

Update: Gerade kommt ein Video zum Song "FRIENDO" hinterher, gedreht wurde unter der Regie von Nicolai Hildebrandt.





Donnerstag, 14. Januar 2021

Shame: Kontrastmittel

Shame
„Drunk Tank Pink“

(Dead Oceans)

Man sagt ja, mit zunehmendem Alter werde der Blick auf die eigene Vergangenheit milder, großzügiger, man könne sogar über Dinge lachen, die früher ernst, unverzeihlich, bedrohlich schienen. Wann genau diese Zeit der Entspanntheit einsetzt, ist allerdings nicht so genau überliefert, je nach Charakter kann das wohl kurze oder eben auch längere Zeit dauern und wer weiß – manche/r schafft’s unter Umständen gar nicht zum buddhistischen Om. Vielleicht wäre es deshalb ja eine Empfehlung, erst gar nicht solche Dinge zu veranstalten, die einem hernach peinlich sind, sich also besser nicht zum Idioten zu machen und Selbstironie früh genug zu lernen? Schon klar, frommer Wunsch. Musiker*innen haben es da nicht eben einfacher, im Gegenteil, sie verleben ihre Jugendzeit bei entsprechendem Erfolg schließlich auf offener Bühne und unter den Augen von tausenden, vielleicht sogar Millionen Mitmenschen, die nicht immer guten Willens sind und im schlimmsten Fall sogar gierig auf jeden Fehltritt warten, einfach weil es so leichter fällt, von den eigenen Schwächen und Fehlern abzulenken. 

Nun, die fünf Jungs der Londoner Band Shame haben, soweit bekannt, so viel noch nicht falsch gemacht in ihrem Musikerleben, im Gegenteil, mit ihrem Debütalbum „Songs Of Praise“ und der darauf ausgelebten rotzig-lakonischen Punkattitüde wurden sie schnell zu Lieblingen der einschlägigen Kritik und zum neuen Aushängeschild britischen Draufgängertums, das die ehemals so coole Nation in Zeiten des zunehmenden Verfalls dringend gebrauchen konnte. Diese Rolle, was Wunder, wollten sie natürlich keineswegs spielen, sie sind zu klug und politisch zu wach, um sich vor irgendwelche Karren spannen zu lassen, auch wenn sie sich bis jetzt mit allzu fetten Parolen sorglich zurückhalten. Was das Quintett um Frontmann Charlie Steen von den Verhältnissen im abgewirtschafteten Königreich, von zunehmender sozialer Schieflage, Nationalismus und den Folgen des Brexits hält, kann man ohne weiteres auch recht deutlich zwischen den Zeilen lesen, dazu bedarf es keiner größeren Anstrengung.

Ihr neues Album „Drunk Tank Pink“ ist dann auch die erhoffte, weil eben doch überaus ernsthaft betriebene Weiterentwicklung in Zeiten, die zur Auseinandersetzung auffordern, selbst im privaten Bereich entkommt wohl niemand den gesellschaftlichen Verwerfungen, die durch die Pandemie bekanntlich noch verstärkt worden sind. Die Songs sind zwar allesamt vor Lockdown und Covid-19 entstanden, dennoch sagte Steen kürzlich dem Independent zur Platte: „It deals with a lot of themes of isolation … Nobody’s not had a time this year where they haven’t felt alone.“ Das also der Grund, warum der jugendliche Leichtsinn des Erstlings verschwunden scheint, Shame klingen jetzt harscher, lauter, auch dichter, die Songs sind komplex und schwer und die Ausgelassenheit, mit der die Bande noch in früheren Videos über Apfelwiesen stolperte, scheint ein für allemal vorbei. Anders also, keineswegs schlechter. 

Aus dem Ärmel geschüttelte Hits findet man auf „Drunk Tank Pink“ kaum, stattdessen die trotzige Härte von Stücken wie „Alphabet“, „Born In Luton“ oder „Great Dog“. Den vibrierenden Funkbass haben sie dagegen nicht vergessen, die Singles „Water In The Well“ und „Nigel Hitter“ sind Post-Punk in bester Tradition, letzteres lässt sich mit bissigem Sarkasmus über den Anspruch der Menschheit aus, die Krone der Schöpfung zu stellen – nur um am Ende doch nur erschöpft und hilflos im Hamsterrad hängen zu bleiben. Die Vielzahl der Facetten und die Kontraste sind es, was dieses Album über Reifung, innere Kämpfe und mentale Widerständigkeit hinaus auszeichnet. Dunkelster Wave, schmirgelnde Gitarren, bratzige Elektronik, die düsteren Gedanken wechseln mit beinahe archaischer Wildheit, Musik aus dem Zwischenstadium. “We were like tourists in our own adolescence in a way“ meinte Steen in besagten Interview - und wir hören und sehen gern weiter dabei zu.