Mittwoch, 30. Dezember 2020

Run The Jewels: Keine weiße Weihnacht!

Hätte es CLIPPING und ihr sensationelles Album "Visions Of Bodies Being Burned" 2020 nicht auch noch gegeben, es wäre ohne Zweifel auf hier das Jahr von Killer Mike und El-P gewesen. Nun, das ist es, glaubt man dem Ranking der führenden Musikportale, wahrscheinlich wegen des ebenso grandiosen "RTJ4" ohnehin, ein Platz hoch oder runter werden die beiden sowieso verschmerzen. Und um das Ganze zu unterstreichen, schicken sie nun für die Single "Walking In The Snow" einen feinen Animationsclip von Chris Hopewell auf die letzten Meter, dem Mann also, der auch schon "Don't Get Captured" von "RTJ3" und ebenso Radioheads "Burn The Witch" gebastelt hatte. Im aktuellen Streifen tritt das Duo erneut im Spielfigurenoutfit auf, also eher oldschool und somit im krassen Gegensatz zu dem Clip ("No Save Point"), den Run The Jewels zum Release des Computerspiels "Cyberpunk 2077" vor einigen Wochen veröffentlicht haben. Die Message der aktuellen Single ist klar - keine weiße Weihnacht!



Montag, 21. Dezember 2020

Lisa Li-Lund: Emotional schwierig

Da müssen wir gar nicht groß nach Ausflüchten suchen, so ist es nun mal: Das dämliche Virus hat uns emotional derart im Griff, dass wir scheinbar Alltägliches aus früheren Zeiten gnadenlos überhöhen - einem flüchtigen Händeschütteln zur Begrüßung im TV folgt sofort der erschreckte Aufschrei, bei einer innigen Umarmung an gleicher Stelle wiederum heulen wir Rotz und Wasser. Es ist zum Verrücktwerden. Nicht anders geht es uns beim Video zu diesem Song hier, wobei erst einmal völlig unerheblich ist, von wem es und er stammt, die Szenerie scheint so unglaublich fern zu sein in all ihrer Unbekümmertheit, dass es einem schier den Hals abschnüren will. Ein paar Informationen dennoch, denn natürlich ist auch das Lied an sich erwähnenswert. "Your Words, Our World" stammt von der französisch-schwedischen Künstlerin Lisa Li-Lund, mit bürgerlichem Namen Lisa Benouaisch, Schwester von André und David-Ivar Herman Düne. An dieser Stelle sollte es vielleicht schon klingeln, denn Herman Dune sind zumindest Anhängern des Genres Anti-Folk mehr als nur ein Begriff.

Aber wir schweifen ab - Lisa Li-Lund jedenfalls hat schon einige eigene Alben aufgenommen und plant nun für das nächste Jahr bei Pan European Recordings die nächste Studioplatte mit dem Titel "Glass Of Blood". Der vorliegende Song ist allerdings schon etwas älter und bereits im Jahr 2018 auf dem Labelsampler "Voyage III - Beyond Darkness" erschienen, das Video allerdings von Axelle Van Dorpp, einer langjährigen Freundin, ist soweit aktuell. Und wer wissen will, wieso die Träne  kommen, kann den folgenden Kommentar vielleicht ganz gut gebrauchen: "Sie bot mir an, ein Video mit Archivbildern zu machen. Ich war erstaunt zu sehen, womit sie arbeiten wollte, da es sich um Bilder handelte, die ich selbst vor Jahren für ein persönliches Projekt benutzt hatte, von dem sie wiederum keine Ahnung hatte. Sie wählte die Bilder vom Strand, um unserem stressigen Quarantäneleben zu entkommen, sie mit etwas Meer und Sonne aufzuhellen und mir die Möglichkeit zu geben, in die Zeit zu reisen, als ich in Kalifornien lebte. Und so kommen süße und weiche Einstellungen zu einem Lied, das für mich ein sehr schweres, persönliches, emotionales ist, und ich mag den Kontrast, der dadurch entstanden ist." Hinzufügen wollen wir gern noch eine Coverversion des Songs "The Frontier Index", den sie im vergangenen Jahr einem Tribute-Sampler beigesteuert hat, der zu Ehren von D.C. Bermann entstanden ist, dem Sänger der Silver Jews, der sich 2019 das Leben nahm.




Sonntag, 20. Dezember 2020

Make Boys Cry: Let's get lost

Auch wenn man mit dem Begriff Neo-Klassik nicht sonderlich viel anzufangen weiß (irgendwie klingt das so hilflos wie Nu-Metal oder die traurige Kategorisierung unter den Buchstaben U und E) - was das Hamburger Label Audiolith da mit dem Projekt Make Boys Cry präsentiert, ist zunächst einmal überraschend und selbst für Hamburger Verhältnisse recht ungewöhnlich. Kein rotziger Punk also, kein Bleep-Techno und kein Hanseaten-Hip-Hop, sondern eine Mischung aus klassischem Piano und experimenteller Elektronika, irgendwo zwischen Yann Tiersen, Michael Nyman und Niels Frahm. Dass die Künstlerin Julia Pustet, auch als Pianistin, Produzentin und Komponistin mit den Lebensmittelpunkten Leipzig und Berlin geführt, hinter dem Projekt steckt, darf vorerst nur vermutet werden, fest steht aber, dass ihr erstes Album "Glass Cannon" mit ganzen zwanzig Tracks gerade erschienen ist. Das Grundthema, so die Linernotes, sei der Gegensatz zwischen Weichheit und Härte, anschaulich visuell übersetzt im Clip zur Single "Skip Me" von Arwid Wünsch, ansonsten bleibt einem erst einmal nur, sich in den wunderbaren Melodiebögen des Werkes zu verlieren - und das ist jetzt nicht die schlechteste Lösung.


Chilly Gonzales: Frohe Botschaft [Update]

Okay, face the truth: Weihnachten naht. Auch wenn die Temperaturen da draußen nicht danach sind, auch wenn wir gerade erst die mutmaßlich wichtigste frohe Botschaft bekommen haben - das Fest kommt trotzdem. Und obwohl wir nicht gerade als der Ort für beseeltes Klingelingeling bekannt sind, die folgende Nachricht ist schon eine schöne. Denn der personifizierte Musiksachverstand, -liebhaber und geniale Künstler Chilly Gonzales aus Kanada hat ja bekanntlich vor kurzer Zeit ein Buch über Enya (KiWi) veröffentlicht und gerade weil er der ist, der er ist, kann man davon ausgehen, dass sich die Lektüre lohnt (auch wenn man mit der Musik erst einmal superdollen Kitsch verbindet). Doch damit nicht genug, nun schickt sich der eleganteste Bademantelträger seit Udo Jürgens an, auch noch ein Weihnachtsalbum zu veröffentlichen. "A Very Chilly Christmas" wird am 13. November auf seinem eigenen Label Gentle Threat erscheinen und neben Duetten mit Jarvis Cocker und Feist auch ein Cover von Mariah Careys Oberschnulze "All I Want For Christmas Is You" enthalten. Dazu kommen noch Klassiker wie "O Tannenbaum", "Jingle Bells", "Silent Night" und "Last Christmas", selbst an das vor einiger Zeit von Helene Fischer verunstaltete "Maria durch ein Dornwald ging" hat er sich herangetraut. Und, das sagen wir jetzt nicht einfach so daher, wir sind mächtig gespannt!

Update: Mittlerweile wissen wir, dass die Platte überaus großartig ist, nun ist auch ein kleines Musical dazu auf Arte dazu erschienen - voilá!




Samstag, 19. Dezember 2020

Alicia Gaines: Zurück zum Selbst

Man trifft ja hierzulande leider immer noch Unbelehrbare, die meinen, sie müssten unter den gänzlich ungerechtfertigten Einschränkungen des öffentlichen Lebens unvorstellbar leiden. Hier empfiehlt sich ein kurzer Blick in die USA, um sich zu vergegenwärtigen, wieviel unermessliches Leid von einem Menschen angerichtet werden kann, der sich allen wissenschaftlichen Ratschlägen verweigerte und seine Landsleute davon überzeugen wollte, dieses Virus werde sich von einem Moment auf den anderen einfach so in Luft auflösen. Dass seine Zeit abgelaufen scheint, ist da wahrlich nur ein schwacher Trost. Chicago im Staate Illinois belegt zwar auf der traurigen Hitliste der am stärksten von der Krise betroffenen amerikanischen Großstädte keine führende Platzierung, doch auch in Windy City wütet die Pandemie ausreichend schlimm, auch hier regieren seit langem schon Angst und Misstrauen, bestimmen Quarantäne und Lockdown einmal mehr die Tagesordnung. Schlimm für die Ärmsten und die Schwächsten, wozu, das machte kürzlich Chicagos Bürgermeisterin Lauri Lightfoot schmerzlich öffentlich deutlich, vor allem die schwarze Bevölkerung gehört. Unangenehm nicht zuletzt auch für Künstler*innen, denen fast das komplette Betätigungsfeld genommen ist. Erfreulich deshalb, dass Alicia Gaines, Bassistin der Band Ganser - in diesem Jahr mit dem tollen Album "Just Look At That Sky" (Felte Records) - trotzdem Zeit und Muße hatte, uns ein paar ihrer diesjährigen Favoriten näherzubringen und mit entsprechenden Kommentaren zu versehen. Gaines, die sich auch als Graphikdesignerin einen Namen gemacht hat, ist weit davon entfernt, nur im eigenen Art-Rock/Post-Punk-Garten zu wildern und um lohnende Tipps in Sachen Musik ohnehin nie verlegen (erst kürzlich kam sie mit dem furiosen Debüt der britischen Fusion-Jazz-Legenden This Heat aus dem Jahr 1979 um die Ecke). Und so erwarten uns auch hier eine Reihe von Überraschungen...

Fiona Apple
"Fetch The Bolt Cutters"

"Ich glaube, dieses Album hat die Menschen so intensiv angesprochen, weil es wirklich unter die Haut geht. Indem Apple in einige der tiefsten, unruhigsten Ecken ihres Geistes schaut, schaut sie auch in unsere. Die Themen dieser Platte sind so persönlich, dass sie eine Art kollektives, unterbewusstes Meer von Bedürfnissen erreichen, die wir alle teilen. Es gibt einen raffinierten Trick in ihrem bekenntnishaften Stil, der mich nach vorne bringt, mich aber genauso unruhig zurücklässt wie dieses Werk. So nah wir dem, was in Fiona Apples Kopf vor sich geht, mit dieser Musik zu kommen glauben, wir werden sie nie so klar sehen, wie sie sich selbst sieht."

*

Kate NV
"Room For The Moon"

"Es gibt bestimmte Künstler*innen, bei denen ich es vermeide, zu viel zu recherchieren, und Kate NV fällt unter diese Kategorie. Dieses russische Art-Pop-Album verweist auf die besten Teile der Geschichte dieses Sounds und bietet gleichzeitig eine völlig neue Perspektive. Nachdem ich "Room For The Moon" gehört habe, bin ich sofort wieder in Martin Dupont, das Yellow Magic Orchestra und Fad Gadget eingetaucht. Zudem hat Kate NV auch einige der originellsten Musikvideos produziert."

*

keiyaA
"Forever, Ya Girl"

"Diese Platte ist so einzigartig, dass ich mich dabei ertappt habe, sie auf Repeat zu hören, um ihre Produktion zu entschlüsseln. Es gibt so viele Verankerungen zum traditionellen Neo-Soul-Sound, trotzdem findet keiyaA immer wieder neue Wege findet, um in experimentelle Gefilde abzuschweifen. Anstatt ihre Stimme an die Musik anzupassen, beugt sich diese Musik dem Gesang und windet sich um ihre Gedanken auf eine Weise, die wiederum nicht schlecht zu Fiona Apples 'Fetch The Bolt Cutters' passt."

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Protomartyr
"Ultimate Success Today"

"Protomartyr klingen durchweg wie das Ende der Welt. Auf 'Ultimate Success Today' fühlt sich der kollektive Sound an wie ein Mann, der sich einer massiven, bedrückenden und definitiv tödlichen Flutwelle gegenübersieht. Er sah die Welle allerdings schon lange kommen - die Band hat es sich auch auf früheren Alben zum Anliegen gemacht, uns zu sagen, dass diese Welle längst auf dem Weg ist. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Erliegen und der Kapitulation, und Protomartyr finden ihre Erlösung, während sie von den brechenden Fluten des Unheils und den Sirenenhörnern verschluckt werden."

*

Clipping.
"Visions Of Bodies Being Burned"

"Es gibt da diese einzigartige Sequenz nach 18 Sekunden im vorletzten Track "Enlacing", die vielleicht und  passenderweise mein einprägsamster Musikmoment des Jahres ist. Der eingängige und so vertraute Aufbau des Intros schwillt zu voller Erwartung an, bevor er wie ein Ballon zerplatzt und der Boden aus der Produktion auf eine solch komplette Art und Weise herausfällt, dass ich beim ersten Hören zurückgescrollt und immer wieder versucht habe, die Effekte herauszuhören, die ein solch plötzlichen Fall in die absolute Schwärze, in die Trostlosigkeit möglich machen. Das ganze Jahr über war ich irgendwie damit beschäftigt, dieses Gefühl für mich herauszuarbeiten - und Clipping. haben es geschafft, das in Musik umzusetzen."

Eine kurze Nachbemerkung noch: Die Antwort auf die Frage, welche denn ihre musikalischen Allzeit-Favoriten seien, fiel Alicia Gaines dann nicht ganz so einfach. Was Wunder, wer legt sich schon gern fest, wenn so viel von Stimmungen, also den persönlichen Hochgefühlen und Tiefschlägen abhängt und jeder Gemütszustand nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten, einem anderen Soundtrack verlangt. Für die Zeit der Quarantäne aber waren es dann letztendlich diese fünf Kandidaten - Änderungen jederzeit möglich:

Talk Talk "Spirit of Eden"
Thom Yorke "ANIMA"
Supergrass "In It For the Money"
Blonde Redhead "Fake Can Be Just As Good"
Peter Gabriel "3 (Melt)"

Freitag, 18. Dezember 2020

PAAR: Im Rotlicht

Man möchte der Stadt München ja nicht zu nahe treten, aber da können sich die Herren Batic und Leitmayr seit Jahren sonntäglich noch so viel Mühe geben - in Sachen schillernd verruchtes Verbrechermillieu wird da einfach nichts G'scheits mehr draus werden. Und auch das Rotlicht glimmt hier nur ganz blass, selbst Hannover (!) und Bielefeld (!!) haben da mit einem eigenen Hells-Angels-Chapter deutlich mehr zu bieten. Das macht die Suche nach geeigneten Locations natürlich etwas schwerer, aber mit etwas Ausdauer findet, wer will, dann doch Geeignetes. So geschehen auch bei den Arbeiten zum neuen Video der fabelhaften Münchner Band PAAR. Regisseur Leo van Kann jedenfalls hat zum Song "Beauty Needs Witness" vom feinen Album "Die Notwendigkeit der Notwendigkeit" die Red Piano Bar in der ehrwürdigen Schillerstraße aufgetan und dort eine gehörig schwitzende Band und den einigermaßen bizarren Animiertanz von Michael Gempart gedreht.

Bahrenfeld: Lokale Größe

Wenn der gute Lars Lewerenz so richtig bolle stolz ist, dann kann und will er das nicht verbergen, dann scheint er vor laufender Kamera wegen der Vorfreude schier zu platzen: So auch hier, denn der Labelgründer von Audiolith kann endlich wieder einmal ein Kind vom Kiez, seinem Kiez, vorstellen, und der heißt eben nicht Schanzenviertel, St. Pauli oder Altona - sondern: Bahrenfeld. Dort groß geworden ist also auch Finn Lübke, der unter dem gleichlautenden Pseudonym nun sein Projekt mit der EP "Ponton" einer breiteren Öffentlichkeit vorstellt. Und da kommt dann eben der Lars mit seiner Idee vom Drohneninterview (ganz stilvoll mit Hermeshochhaus und Trabrennbahn) gerade recht. Zwei der insgesamt sechs Tracks ("Heck" und "Quartier") gibt es vorab auch zu sehen, den Rest seit gestern auf all den üblichen Kanälen dieser Welt. Und wer dann auch noch die Synchro von Bud Spencer erkennt, ist um so glücklicher, natürlich auch außerhalb von Bahrenfeld.





Mittwoch, 16. Dezember 2020

Arlo Parks: Mit langem Anlauf [Update]

Was die gerade erwähnte Nilüfer Yanya schon geschafft hat, steht dieser Künstlerin noch bevor. Und doch ist wohl mit einem ähnlich durchschlagenden Erfolg zu rechnen: Denn Arlo Parks, ebenfalls in London daheim, hat mit ihren bislang erschienenen Songs die Kritik derart verzaubert, dass die Erwartungen nicht gerade klein sein werden, wenn im Januar ihr Debütalbum "Collapsed In Sunbeams" erscheinen wird. Gerade veröffentlichte die junge Songwriterin den Song "Green Eyes", der zusammen mit Clairo entstanden ist, erst kürzlich waren von ihr die Stücke "Black Dog" und "Eugene" im Netz aufgetaucht. 

Update: Mit "Caroline" gibt es heute einen neuen Song vom Debüt zu hören.






Dienstag, 15. Dezember 2020

Viagra Boys: Selbsterkenntnisse [Update]

Diese Art von Selbsteinsicht wünscht man anderen Gestalten auf dem Planeten ebenfalls sehr dringend, nicht zuletzt denen in hohen politischen Ämtern. Aber bei sich selbst damit anzufangen ist bei weitem nicht die schlechteste Idee. Sebastian Murphy, Sänger der schwedischen Punk-Kapelle Viagra Boys, ist keineswegs stolz auf jeden Moment seines Lebens - in der Pressemitteilung zum neuen Album seiner Band, die heute die Runde macht, formuliert er das ungewohnt offen: "We wrote these songs at a time when I had been in a long-term relationship, taking drugs every day, and being an asshole. I didn’t really realise what an asshole I was until it was too late, and a lot of the record has to do with coming to terms with the fact that I’d set the wrong goals for myself." Nun, seinen Humor hat er trotzdem nicht verloren, denn im Clip zur Single "Ain't Nice" (produziert von der Kreativagentur SNASK aus Stockholm) gibt Murphy die übergriffige Nervensäge, die sich mit allem und jedem anlegt - besonders schön, wenn ihn die Kamera aus dem Blickfeld verliert, weil er wieder irgendwo hängengeblieben ist. "Welfare Jazz", so der Name des Nachfolgers von "Street Worms", soll mit dreizehn Songs am 8. Januar bei YEAR0001 erscheinen, die dazugehörige Tour startet wie schon gepostet im Mai.

19.05.  Leipzig, Conne Island
21.05.  Vienna, Flex
23 05.  München, Technikum
24.05.  Berlin, Festsaal Kreuzberg
25.05.  Hamburg, Uebel und Gefährlich
30.05.  Köln, Kantine 

Update: Und schon das zweite Video zu einem Song von der neuen Platte - hier kommt "Creatures" mit dem Clip von Eric Kockum, Falco zum Albträumen ... Und weil man von den Viagra Boys grundsätzlich mal so ziemlich alles erwarten darf - warum also nicht mal eine Karaoke-Version des alten John-Prine-Klassikers "In Spite Of Ourselves", hingebungsvoll dargeboten gemeinsam mit der wundervollen Amy Taylor von Amyl And The Sniffers?








Sonntag, 13. Dezember 2020

Georgia: Runter vom Index

Okay, es ist nun mal so, dass man bestimmte Songs auf ein Art persönlichen Index gesetzt hat, die also so überhaupt nicht angefasst geschweige denn geändert werden dürfen. Meistens sind das Stücke, die mit wertvollen Erinnerungen aus der Kinder- und Jugendzeit verbunden sind und würde sich jemand an dieser Musik vergreifen, so die Denke, dann täte er oder sie das eben auch ein Stück weit an der eigenen Vita. Zu diesen Stücken gehört nun zweifellos für viele auch Kate Bush's "Running Up That Hill" vom Album "Hounds Of Love", ein wahrhafter Monolith der 80er. Bush hat viele großartige Singles und Platten veröffentlicht und, um im Bilde zu bleiben, vieler Leben bereichert und geprägt, aber kein Lied war wie dieses. Ähnlich sieht es wohl auch Georgia Rose Harriet Barnes, kurz Georgia genannt, britische Künstlerin aus London. Obschon erst 1990 geboren, ist auch sie mit der Musik von Kate Bush aufgewachsen. Und wusste wohl um das Wagnis, sich an ein Cover des Songs heranzuwagen, noch dazu ein tanzbares. Gemeinsam mit ihrem Bruder Sid Barnes, der für das Video eine Ballettchoreografie einstudiert hat, nahm sie die Herausforderung an - und wir bleiben, allen Vorbehalten zu Trotz, staunend vor dem Bildschirm sitzen. Es ist nicht die gleiche Magie wie damals, aber die Erinnerung daran kommt für drei Minuten zurück.

Freitag, 11. Dezember 2020

Oberpollinger 2020: Die besten Alben



25
Haiyti
"Sui Sui"

Neues Album oder nächstes Mixtape? Ist doch egal. Viel wichtiger dagegen: Sie bleibt gut. Was nicht selbstverständlich ist bei dem Tempo, was sie vorlegt. Aus dem Schatten ging‘s für Haiyti spätestens vor zwei Jahren mit „Montenegro Zero“ – Reime zwischen Glasbruch und Lammfell, mal aggressiv, mal supersmooth, Schnellfeuer-Rap und Schwermut-Trap. Die Stimme klirrt und stolpert, Egotrip, Drogenrausch, keine andere Wahl: Hassen oder lieben – wir tun letzteres. Das geht weiter mit „Perroquet“ kurze Zeit später, sie läßt nicht locker, bleibt unter Strom und ungeschlagen. Und jetzt? Etwas anders, trotzdem top. „Sui Sui“ ist mehr Pop, weniger Uzi, probiert mal aus und daran muss man sich eben erst gewöhnen. „Paname“ schnappt sich ein paar hübsche Percussions und tänzelt dazu am glitzernden Sandstrand, noch eingängiger, geschmeidiger gestrickt dann „La La Land“, maximal entspannt, „california dream“ mit Zotteltier und Bläserchören ... [mehr]



24
Loma
"Don't Shy Away"

Die Behauptung, Brian Eno habe sich Zeit seines nunmehr schon gut siebzigjährigen Lebens um die Musik so verdient gemacht wie kaum ein anderer Künstler, ist wahrscheinlich nicht allzu gewagt – allein seine Arbeiten mit und für Roxy Music, die Talking Heads und sein Solowerk im Dienste von Ambient, Art-Rock, Jazz und experimentellem Pop füllen sowohl Plattenschränke als auch Regelmeter an Dissertationen. Dass er sich dieses innovative Wirken bis ins Heute hinein bewahrt hat, will ebenfalls keiner bestreiten, erst kürzlich hat er wie zum Beweis und quasi als Nebenverdienst, das Fortbestehen dieser Band hier gesichert. Loma, also Emily Cross, Dan Duszynski und Jonathan Meiburg, so geht die Geschichte, hatten mit dem Ende ihres um 2017 gestarteten Projektes wegen verschiedenster Wirren und Probleme eigentlich schon abgeschlossen, da erhielt Cross eine Mail, ebenjener Brian Eno hätte in der BBC eine kleine Lobeshymne auf „Black Willow“, ein Stück vom selbstbetitelten Debüt, verfasst. Mit solch einem ehrenwerten Kommentar im Rücken ließen sich offenbar auch bestehende Meinungsverschiedenheiten und Egoismen schneller beiseite schieben und so begann bald die Arbeit an „Don’t Shy Away“, dem zweiten Album ... [mehr]



23
All diese Gewalt
"Andere"

Vor zehn Jahren sang einmal ein kluger Kopf diese Zeilen: „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn, im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen Willen wie aus Wachs. Im Zweifel für die Zwitterwesen aus weit entfernten Sphären, im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären.“ Es ist nicht anzunehmen, dass Dirk von Lowtzow, Sänger und Texter der Hamburger Kapelle Tocotronic, schon damals wusste, was Max Rieger im Jahr 2020 umtreiben würde. Er wollte wohl einfach eine Lanze brechen für die scheinbar Schwachen, Unentschiedenen, Zögerlichen. Und er brach sie unbewusst eben auch für den Mann, der sich hinter dem Pseudonym All diese Gewalt verbirgt, der sonst mit seiner Band Die Nerven deutlich härtere Töne anschlägt. Und der ganze vier Jahre an diesem, seinem zweiten Soloalbum arbeitete, mit ihm haderte, kämpfte und selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gänzlich davon überzeugt war. Rieger hat dieses zähe Ringen mit sich selbst öffentlich gemacht und für einiges Erstaunen gesorgt, schlussendlich übergab er das Werk, wie er dem Radiosender detektor.fm sagte, aber dann doch dem Produzenten, wohl wissend, dass seine Arbeit getan war und diese so schlecht nicht sein konnte ... [mehr]



22
The Screenshots
"2 Millionen Umsatz mit einer einfachen Idee"

Hey Krefeld, wir müssen reden: Offensichtlich habt ihr ja vor Ort eine/n ganz emsigen Stadtschreiber*in sitzen, die/der in den letzten Jahren eine Wikipedia-Seite gebastelt hat, hinter der sich manch größere Stadt in Deutschland aber so was von verstecken kann. Daran ist grundsätzlich überhaupt nichts auszusetzen, denn wer seine Heimatstadt liebt, der schreibt. Gern auch mehr. Krefeld verzeichnet, nur so als Beispiel, unter „8. Kultur“ sogar einen eigenen Unterpunkt „8.3. Nachtleben“ und den hat nicht mal Big Bolle Berlin! Was ihr uns aber mal dringend erklären müsst: Ralf Hütter lasst ihr nicht unter den Tisch fallen (schon klar), selbst eine angeranzte Metalkombo wie Blind Guardian findet ihren Platz (meinetwegen) – aber wie kann man denn eine so fabelhafte Band The Screenshots gänzlich unerwähnt lassen? GEHT’S NOCH?! ... [mehr]



21
Nadine Shah
"Kitchen Sink"

Schon verwunderlich, dass große Supermarktketten für Künstler*innen nicht längst Aufkleber haben produzieren lassen, auf denen sie ihre Kunden mit folgendem Hinweis zu warnen: „Achtung – der übermäßige Genuss dieses Produktes könnte sie nachhaltig verunsichern!“ Klar wäre dann: Nadine Shah, gebürtige Britin mit norwegischen und pakistanischen Wurzeln, hätte sich ein Dauerabonnement darauf ehrlich verdient. Und würde sie wohl als Auszeichnung verstehen. Seit sie ihre Karriere 2012 mit der EP „Aching Bones“ startete, hat sie sich in punkto direkter Ansprache und bitterbösem Sarkasmus nie zurückgehalten, schon auf ihren beiden Alben „Love You Dum And Mad“ (2013) und „Holiday Destination“ (2017) beschäftigte sich die streitbare Frau mit Themen wie Feminismus, Antiislamismus, Flüchtlingselend und Rassenhass. Toxische Männlichkeit in Verbindung mit überkommenen weiblichen Rollenbildern – hier als angeborene, tradierte Allmachtsfantasie, dort die Unterordnung, das Schamgefühl und der Rückzug – all diese Auswüchse und Verirrungen gelten ihr als dauerhafte Angriffsziele und gerade die neueste, dritte Platte „Kitchen Sink“ ist voll von wütenden Grußadressen ... [mehr]



20
Haim
"Women In Music Pt. III"

Was jetzt eigentlich anders ist? Nun, genaugenommen gar nicht so viel. Es sind noch immer die drei Schwestern Danielle, Alana, Este, die seit acht Jahren gemeinsam auf der Bühne stehen und nimmt man das Ergebnis dieser Zusammenarbeit, die aktuelle, dritte Platte also, als Gradmesser, dann dürfte es um das familiäre Binnenklima derzeit besser denn je bestellt sein. Es gibt ja nicht wenige Stimmen, die behaupten, Haim hätten mit „Women In Music“ ihr bislang bestes Album abgeliefert. Schwer zu sagen, weil die Euphorie um ihr Debüt „Days Are Gone“ alles überstrahlte und der Nachfolger zwangsläufig einen schweren Stand haben musste. Dennoch: Je länger man sich mit der neuen Platte beschäftigt, desto mehr möchte man der vorangegangenen These zustimmen. Ernsthafter sind sie geworden, das lässt sich sagen – was sicher auch daran liegt, dass sie es (man hört es in vielen Interviews) ziemlich leid sind, jeder und jedem immer wieder erklären zu müssen, dass sie weit mehr sind als drei hübsche Girls, die zu gefällige Popmelodien die Hüften schwingen und für den Rest vorurteilsgemäß eine Entourage an Zuarbeiter*innen beschäftigen ... [mehr]


19
PAAR
"Die Notwendigkeit der Notwendigkeit"

Fast hätten wir vergessen, wie gut sie wirklich sind: Das Münchner Post-Punk-Trio PAAR, zuletzt mit dem Video zum Song "CRACK" von ihrer EP "HONE" in Erscheinung getreten, gehört zu jener Sorte Bands, die die Geduld ihrer Fans stets auf eine harte Probe stellen. Weil sie sich sehr viel Zeit nehmen für die Dinge, mit denen sie in die Öffentlichkeit gehen (auch der Clip zu "SYN" brauchte gefühlt Monate, ehe er sich aus dem Dunkel der Postproduktion wagte), wogegen nichts zu sagen ist, weil diese Dinge dann eben auch bemerkenswert gut gelingen. Ein Teufelskreis. Keine wirkliche Überraschung also, dass auch das Debütalbum lange auf sich warten ließ - und durchweg überzeugt. Die musikalischen Vorlieben von Sängerin Ly Nguyen, Rico Sperl (Bass, Electronics) und Matthias Zimmermann an der Gitarre liegen bekanntlich eher im Halbschatten - der Sound von PAAR kommt als Mischung aus Cold Wave, Gothrock, Shoegazing und Post-Punk daher und klingt dabei weiterhin dicht, hochmelodisch und sehr intensiv ... [mehr]


18
Tim Burgess
"I Love That New Sky"

Es ist nur fair, wenn man sich dieser Tage etwas ausführlicher der neuen Platte von Tim Burgess, dem Kreativkopf der britischen Kapelle The Charlatans, widmet. Zum einen, weil „I Love That New Sky“ – wir greifen vor – mit Sicherheit eines der besten Popalben dieses Jahres geworden ist. Und darüberhinaus hat sich wohl kaum ein Musiker während des anhaltenden Corona-Lockdowns so anrührend und leidenschaftlich um das Wohl seiner Kolleg*innen gekümmert wie der Mann aus Manchester – und tut es noch. Innerhalb kürzester Zeit ist #TimsTwitterListeningParty zum Dauerbrenner avanciert, wer kein Konzerte besuchen kann (wie die einen) und ebensowenig welche geben darf (die anderen), setzt sich einfach mit einer gemeinsamen Lieblingsplatte vor die Anlage, Notebook oder Smartphone immer parat, um sich dann miteinander auszutauschen, in Erinnerungen zu schwelgen, gern auch mal etwas nostalgisch, gar eskapistisch zu werden. Da drehen dann Primal Scream, Oasis, die Sleaford Mods, die Idles, Blur oder Nada Surf auf dem Teller, wandern Fotos und Anekdoten von hier nach da, sage noch einer, Pop könne die Menschen nicht verbinden ... [mehr]


17
Glass Animals
"Dreamland"

Natürlich lässt man eine solche Geschichte, wie sie gerade in vielen Zeitungen (so unter anderem im britischen Independent) zu lesen ist, nicht einfach liegen. Zumal Sänger Dave Baley von den Glass Animals ohnehin so dreinblickt, dass man ihm jede Story abkauft. Vor zwei Jahren jedenfalls ist Banddrummer und Sandkastenbuddy Joe Seaward in Dublin mit seinem Fahrrad ziemlich böse unter die Räder gekommen, langwierige Untersuchungen, zähe Klinikaufenthalte folgten und während der eine Freund beim anderen am Krankenbett saß und versuchte, halbwegs zuversichtlich nach vorn zu schauen (Baley studierte zu dieser Zeit passenderweise Neurowissenschaften), wuchsen auch nach und nach die Ideen zum vorliegenden Album. Und die waren nicht immer so locker entspannt wie mancher Track auf „Dreamland“ klingt und der Titel suggerieren mag ... [mehr]


16
Baxter Dury
"The Night Chancers"

Über die charmante Tatsache, dass sich Baxter Dury trotz seiner unleugbar britischen Herkunft mit seiner Musik eher der Zugehörigkeit zur französischen Bohéme verdächtig macht und ihm mit Serge Gainsbourg auch gleich das passende Role Model parat steht, wurde (auch hier) schon viel geschrieben. Anlass dazu gab spätestens die Veröffentlichung seines letzten Albums „Prince Of Tears“ im Herbst 2017 – ändern tut sich daran auch mit der neuen Platte nichts. Ganz im Gegenteil, Dury geht den eingeschlagenen Weg mit der lässigen Eleganz eines gefallenen Dandys entschlossen und konsequent weiter. Er, dem nach eigener Aussage die glattpolierten, oberflächlichen Lebensläufe vieler seiner Mitmenschen ein langweiliger Graus sind („I can only really talk about the confusion and the fog“/CLASH), lässt in seinen Liedern gern auf die Abgründe und seelischen Verwerfungen blicken, die unsere ach so moderne und aufgeklärte Gesellschaft hervorbringt – an den Rändern, in den Graubereichen, mit all den Verlockungen, die Anonymität, grenzenlose Selbstverwirklichung und sexuelle Promiskuität mit sich bringen ... [mehr]


15
Friends Of Gas
"Kein Wetter"

Die Frage nach der Unverwechselbarkeit, sie stellt sich ja zunächst nur uns, die wir zuhören, die wir sofort vergleichen und urteilen wollen. Als Künstler*in hingegen ist man erst einmal bestrebt, alle Gedanken, Intentionen, die in einem nicht mehr nur schlummern, sondern rumoren, herausdrängen, in eine Form zu bringen, mit der man zuallererst selbst zufrieden ist, die einem als der passende Ausdruck erscheint. Ob das so schon jemand gemacht hat? Who cares! Auch bei der Münchner Formation Friends Of Gas wird das nicht anders sein, auch hier ist Unverwechselbarkeit also keineswegs Intention, gleichwohl aber Ergebnis. Denn man wird lange suchen müssen, um in der derzeitigen Musiklandschaft etwas Vergleichbares zu finden, das so roh, so unmittelbar und ungeschönt ist. Ja, Friends Of Gas machen es einem nicht einfach, sind sperrig und schwer zugänglich, allerdings vornehmlich dem, der sich keine Zeit lässt und die Mühe der Auseinandersetzung scheut. Die Platten des Quintetts, die vorliegende eingeschlossen, wirken stets so, als seien sie im Ganzen aus einem schrundigen, verwitterten Gesteinsblock herausgehauen worden – der Sound der Band, irgendwo zwischen Post-Punk, No-Wave und Noiserock, erscheint uns auf fast schon berauschende Weise organisch (und ist nebenbei auch ein Grund, warum man die Friends Of Gas, wenn schon nicht live, ausschließlich auf Vinyl wirklich genießen kann) ... [mehr]


14
Ghostpoet
"I Grow Tired But Dare To Fall Asleep"

Natürlich könnte manche/r fragen, warum man sich ein Album wie dieses überhaupt antut. In Zeiten, die ohnehin nicht die fröhlichsten sind. Die altgewohnten Gewissheiten erodieren, gut und böse sind deutlich schwerer auseinanderzuhalten, Familien, Freundeskreise, die Gesellschaft, es knirscht und bröckelt an allen Enden und wir verlieren die Übersicht, das Verständnis, die Geduld und (womöglich) auch ein Stück weit auch unsere Mitmenschlichkeit. Und dann also dieser Obaro Ejimiwe, genannt Ghostpoet. Nun, einfach zu haben war der schon lange nicht, seit seinem Debüt „Peanut Butter Blues And Melancholy Jam“ hat sich der gebürtige Nigerianer, wohnhaft in London, der dunklen Seele der Musik verschrieben. Und die sucht sich, um die Eingangsfrage zu beantworten, nun mal ihre Adressaten. Wobei er wohl noch nie so düster war, uns Zuhörer noch nie so tief hat in den Abgrund blicken lassen wie auf dieser, seiner fünften Platte. Der Köder ist bei jedem ein anderer – hier war es der kurz an Billie Eilishs Geniestreich „When We Fall Asleep, Where Do We Go?“ gemahnende Titel, der hier doch um so vieles ernster und dystopischer angelegt ist. Und das buchstäblich pechschwarze Video zur ersten Single „Concrete Pony“: Ejimiwe sitzt, äußerlich unbewegt, in enger Ungemütlichkeit und betrachtet seinen baselitz’schen Dämonen kopfüber an der Decke, ringt jedoch, wird bedrängt in zwischengeschnittenen Albtraumbildern, alles zerfließt, verschwimmt, verklebt auch ... [mehr]


13
Fontaines D.C.
"A Hero's Death"

Woher all der Argwohn kommt? Nun, manchmal ist das Alter eben nicht von Vorteil, sorgt die damit angeblich einhergehende Weisheit, von der ständig die Rede ist, dafür, dass man das hektische und beneidenswert vorbehaltlose Schaffen der Jugend mit misstrauischen Blicken und Zweifeln begleitet. Dabei ist doch eigentlich gar nichts Verwerfliches daran, wenn eine so junge und talentierte Band wie die Fontaines D.C. aus Dublin gerade mal ein Jahr nach Veröffentlichung ihres fabelhaften Debüts „Dogrel“ gleich die nächste, allzeit beunkte zweite Platte angeht. Lassen wir also alle Bedenken und schlechten Beispiele (The Killers, Kings Of Leon, Coldplay, you name it) mal beiseite. Und freuen uns an der Schlagzeile der Irish Times, die gerade treffend titelte: „Same band, different songs, same brilliance“... [mehr]


12
Protomartyr
"Ultimate Success Today"

Mit der Behauptung, die Detroiter Post-Punk-Formation Protomartyr habe mit diesem, ihrem fünften Album die perfekte Sommerplatte abgeliefert, werden wir sicherlich einiges Kopfschütteln ernten. Nicht so voreilig. Wer sagt denn, dass Musik für diese Jahreszeit immer knallbunt und quietschfidel zu klingen hat? Wir reden schließlich nicht von irgendeinem Sommer, sondern vom jetzigen und der ist nun mal – dem Virus sei Dank – in vielerlei Hinsicht ein ziemlich trüber geworden. Insofern passt es ganz gut, dass Joe Casey mit „Ultimate Success Today“ sein bislang dunkelstes Werk besungen hat – depressive Selbstbetrachtungen und düstere Voraussagen treffen auf schroffe, schiefe Gitarrenwände, die irrlichternden Saxophonparts, die jetzt immer häufiger auftauchen, tragen auch nicht viel zur Erhellung der Szenerie bei ... [mehr]


11
The Strokes
"The New Abnormal"

Es gibt wohl kaum ein Volk auf der Erde, welches unsere Vorurteile so treu begleiten wie das der US-Amerikaner. Und wohl auch keines, das sie so oft und gern bestätigt. Und das sagt nicht nur viel über die Menschen dort, sondern eben auch einiges über die Menschen hier, über uns. Wie schön läßt sich gerade jetzt über den steindummen Präsidenten und seine offensichtlich fehlgeleitete, unbelehrbare Gefolgschaft lästern, über den, der Tag für Tag den allergrößten Mist verzapfen kann und jene, die aus dem ganzen Bullshit noch immer eine Heilsbotschaft herauszulesen vermögen. Jeder Herde ihren Hirten, mitgehangen, mitgefangen, was soll’s. Auch wenn es nicht immer derart extrem war, was sich da drüben abspielte, suspekt waren sie uns schon immer, diese Amis. Nun sind die New Yorker so wenig ungebildete, kulturlose Amerikaner wie die Münchner als grobklotzige und schiefmäulige Lederhosenbayern durchgehen (beides sind im Übrigen allergröbste Übertreibungen, versteht sich), aber im Jahr 2001 haben wir diese Amis für einen Moment mal richtig beneidet – und zwar trotz George W. Bush jr., der uns heute fast wie eine harmlose Weichzeichnung staatsmännischen Dummbeuteltums erscheint. 2001 nämlich erschienen mit Julian Casablancas, Nick Valensi, Albert Hammond jr., Nikolai Fraiture und Fabrizio Moretti fünf Typen auf der Bildfläche, die auf Vorurteile einen feuchten Dreck gaben, sich The Strokes nannten und mit ihrem Debüt „Is This It“ die Popwelt wahrlich im Handstreich nahmen – arrogant, lässig, herausfordernd und ungemein talentiert ... [mehr]


10
Algiers
"There Is No Year"

„Was ist das eigentlich?“ – diese Frage begleitet Algiers Zeit ihres Bestehens und sie teilen sie mit den beiden Bands, die ihnen stilistisch am nächsten kommen, den schottischen Young Fathers und TV On The Radio aus New York. Beantwortet wird sie auch mit dem neuen, dritten Studioalbum nicht und wer halbwegs wachen und offenen Geistes durch diese Welt geht, der kann darüber nur froh sein. Denn an Energie, Wucht und Ideenreichtum haben die vier Musiker aus Atlanta rein gar nichts verloren. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass sie auf „There Is No Year“ (experimentierfreudig und düster waren sie ja seit jeher) noch wütender und entschlossener zu Werke gehen. Zerstörerisch möchte man das nicht nennen, weil ja genau das eines der Hauptthemen ist, welches sie textlich in der Gesellschaft um sie herum anprangern und beklagen: Die anhaltende Spirale aus Gewalt, Entmenschlichung, zunehmender Armut und Zerstörung der Lebensgrundlagen ist es, was sie umtreibt, zu dystopischen Metaphern und harten, disruptiven Klängen greifen läßt ... [mehr]


9
RVG
"Feral"

Man muss kein großer Fachmann sein, um zu wissen, dass sich hier genau die Richtigen getroffen haben: RVG, die Romy Vager Group aus dem australischen Melbourne also, gerade dabei, ihr zweites Album "Feral" aufzunehmen, nachdem sie 2017 mit "A Quality Of Mercy" debütierten. Und Produzent Victor Van Vugt, der schon mit Nick Cave und PJ Harvey gearbeitet hatte und zu dessen heiligen Berufsmaximen es gehört, das Einfangen des Live-Erlebnisses über alles zu stellen. Passte perfekt. Wer nämlich die Band schon auf der Bühne erleben durfte, wird wissen, dass es dort mördermäßig scheppert, dampft, dass sich Bandleaderin und Sängerin Romy schier die Seele aus dem Leib schreit, während der Schweiß in Sturzbächen fließt. Musik ist körperliche Arbeit - besser als bei RVG läßt sich das kaum beobachten. Das Verrückte und Beeindruckende an diesem Trio ist der Umstand, daß RVG ihre Songs mit sehr großer Leidenschaft und Ernsthaftigkeit zur Aufführung bringen, dafür aber (neben all dem Krach) durchaus auch wunderbar leichte, hochmelodische Gitarrenakkorde nutzen. Wollte man zwei Referenzen bemühen, um einem Unkundigen den Zauber und die Wirkmächtigkeit der Musik von RVG näherzubringen, dann würde man vielleicht behaupten, hier würde Patti Smith von den Go-Betweens begleitet ... [mehr]


8
070 Shake
"Modus Vivendi"

Die Story ist tatsächlich fast so spannend wie die Musik selbst: Danielle Balbuena, 23, aufgewachsen in North Bergen, New Jersey, in einem Township am Hudson River. Die Mutter selbst jung aus der Dominikanischen Republik in die Staaten gekommen, das Kind kämpft früh mit ADHD und in der Folge mit den Nebenwirkungen der verabreichten Medikamente, Drogen kommen ins Spiel. Die Erfahrung, dass homosexuelles Leben gegen die Erwartungen der Familie, gegen die Konventionen steht und nicht nur Erfüllung und Glück, sondern auch Einsamkeit und Verzweiflung bedeuten kann – einziger Ausweg: Sie schreibt. Gedichte, Texte, erst nur die Worte, später mit Musik. Dann der Durchbruch – Kanye West entdeckt sie für das Team von „Ye“, in seinem Gefolge Kid Cudi, Nas. Und Pusha T., im Track „Santeria“ vom Album „Daytona“ ist sie eine einzige Offenbarung. Danach: Mixtape, Kontakt zu David Hamelin (The Stills), Debütalbum. Ihr „Modus Vivendi“, ihr way of life also scheinbar eine Traumkarriere? Vom Problemkind zum neuen Star der Hip-Hop-Szene, das androide Tech-Tank-Girl mit Wut und Baseball-Schläger, da muß man schon aufpassen, dass einem im Überschwang nicht die Metaphern ausgehen. Besser, man hält sich an die Musik, denn die spricht eine ganz eigene Sprache ... [mehr]


7
Porridge Radio
"Every Bad"

Spätestens Ende des Jahres hätte es sich ohnehin gerächt. Deshalb ist das gar nicht so schlimm (oder das kleinere Übel), sich vergleichsweise spät zu diesem Album zu Wort zu melden. Denn, um eine bekannte Phrase etwas abgewandelt anzuführen: Eine Jahresrevision zu den besten Platten 2020 ohne Porridge Radio ist zwar möglich, aber unsinnig. Gelegenheit, die Qualität der Songs von Dana Margolin, der Sängerin der Band, zu entdecken, hatte es reichlich gegeben – schon im Dezember vergangenen Jahres erschien mit „Lilac“ die erste Single, einen Monat später dann „Sweet“, weitere folgten. Doch selbst wer diese (was so unverzeihlich wie unmöglich ist) überhört haben sollte, den/die erinnerte das Quartett aus Brighton mit dem wunderbaren „7 Seconds“ als Non-Album-Track gerade wieder daran, was für tolle Songs sie zu schreiben in der Lage sind. Dabei machen sie es einem denkbar einfach, Zugang zu finden, denn Margolin gehört wie beispielsweise auch Adrianne Lenker (Big Thief) oder Romy Vager (RVG) zu der Sorte Künstlerinnen, die bereitwillig das Wagnis eingehen, Herz, Hirn und meinetwegen auch Seele uns Zuhörer*innen buchstäblich auf dem Seziertisch bloßzulegen ... [mehr]


6
Coriky
"Coriky"

Wer bei der Besprechung dieser Platte ganz ohne nostalgische Zwischentöne auskommt, besitzt entweder das Talent zur totalen Reduktion oder ist, sehr viel wahrscheinlicher, um einiges zu jung oder einfach ein gefühlloser Klotz. Hier jedenfalls wird es das nicht geben. Wie auch, wenn man im Juli 1995 in der Hamburger Fabrik wohl das Konzert seines Lebens erleben durfte - mit dabei: Ian MacKaye und Joe Lally. Fugazi also. Wer diese Band aus Washington DC also jemals live gesehen, besser: gespürt hat, die ungebremste Wucht, mit der Lallys Bass und Guy Piciottos Gitarre ins Publikum fuhren, angetrieben von Brendan Cantys Schlägen und MacKayes schneidender Stimme, der wird das (zum Glück) seinen Lebtag nicht vergessen. Und natürlich sofort parat haben, sobald die ersten Töne von "Clean Kill" aus den Boxen stampfen. Schon 2015 hatte sich Lally mit Mac Kaye und dessen Ehefrau Amy Farina für erste Proben zusammengetan, lose Verabredungen, erst drei Jahre später dann erste Auftritte - all das ohne Versprechungen oder die übliche Label/Platte/Tour-Routine (Stichwort: Hintertür). Doch nun, weitere zwei Jahre später, nun doch ein gemeinsames Album. Natürlich bei MacKayes Label Dischord, natürlich mit Produzent Don Zientara, der auch schon Minor Threat, Embrace, Fugazi und The Evens betreute. Und mit dafür sorgte, dass "Coriky" nach beidem klingt - nach vertrauter Mischung und angenehm frischem Aufschlag ... [mehr]


5
Brandão Faber Hunger
"Ich liebe dich"

Die meisten von uns werden sich, wenn sie einst an dieses Jahr zurückdenken, vor allem daran erinnern, was unser Handeln vornehmlich bestimmt hat: Zweifel gab es, Ungewissheit, Ängste, Sorgen, Hoffnung gab es und Trotz, aber auch Wut und Hadern. Die Momente ausgelassener Fröhlichkeit, der Ausschweifung und des ungetrübten Glücks waren rar gesät, Liebe und Zärtlichkeit schienen um so kostbarer. Der Soundtrack dazu ist schnell gefunden, Zorn, Hohn und Frust haben eigene Algorithmen generiert und werden Tag um Tag gefüttert, kein Ende in Sicht. Umso wertvoller deshalb ein Album wie dieses. Wir erinnern uns: Wie schwer fällt es einem selbst in unbeschwerten Tagen, Zuneigung, Hingabe und Sehnsucht in Worte zu fassen – ein „Ich hab dich lieb“ oder „Ich mag dich“ ist schnell dahingesagt, aber „Ich liebe dich“ kommt uns nur selten über die Lippen, kostet Überwindung, fordert unbedingte Wahrhaftigkeit ein ... [mehr]


4
SAULT
"Untitled (Black Is)"

Eines der stärksten Statements zu Rassenhass und Polizeigewalt, beides (tatsächlich nicht ganz so überraschend) keine US-amerikanischen Phänomene, kommt dieser Tage von einer Formation, die in der öffentlichen Wahrnehmung zwar existiert, aber ganz bewusst keinen visuellen Zugriff erlaubt. Viele meinen zu wissen, wer sich hinter Sault verbirgt, Namen wie die des Londoner Produzenten Dean Josiah, der Sängerin Cleo Sol oder der Kanye-West-Kollaboratorin Kid Sister werden genannt, aber so wirklich Genaues weiß eigentlich niemand und selbst sonst exzellent vernetzte Journalisten und Insider tappen vorerst weiter im Dunkeln. Gut so und eben deshalb auch ein Trost, dass in Zeiten der vollumfänglichen und allzeitigen Verfügbarkeit von allem und jedem (wenn auch nur für mutmaßlich kurze Zeit) noch Geheimnisse gibt, die sich dem Drang zur Offenlegung entziehen. Und das nicht, so wird vermutet, um eines lustigen Verwirrspiels wegen oder um den Ehrgeiz der Presse herauszufordern. Sondern zugunsten einer Sache, die im Moment größer ist als jede/r einzelne, die oder der sie vertritt ... [mehr]


3
Ganser
"Just Look At That Sky"

Auf das erste Post-Lockdown-Rockalbum werden wir wohl noch eine ganze Weile warten müssen. Nicht nur, weil der ganze Spuk leider noch nicht vorbei ist, sondern auch, weil ein klassisches Band-Setup einfach ein paar Dinge braucht, auf die hippe Bedroom-Popper und Folklore-Kuschler (nur echt mit der Strickjacke) leicht verzichten können – mehrtägige Liveaufnahmen im Studio sind eben nicht zu ersetzen, momentan aber schwer zu bewerkstelligen. Und so haben auch Ganser aus Chicago das Material ihres zweiten Albums schon im vergangenen Jahr eingespielt, ähnlich ging es vor Tagen ihren Geistesverwandten von Protomartyr. Und wir können uns glücklich schätzen, dass die vier nicht auf die Idee gekommen sind, daraus eine coronabedingte Akustikvariante zu machen. Denn was diese Platte auszeichnet und aus dem mediokren Rest hervorhebt, sind diese sperrige, rauschhafte Energie, sind die schmirgelnden Gitarrenriffs von Charlie Landsman, sind Brian Cundiffs düster hämmernde und wuchtige Drums, der mal elegant-düstere, mal erdig anmutende Bass von Alicia Gaines, die sich zudem paritätisch das Mikrophon mit einer zornig und entfesselt performenden Nadia Garofalo teilt ... [mehr]


2
Run The Jewels
"RTJ4"

Gedacht war der Ablauf so wohl nicht. Doch Drehbuch und Dramaturgie schreiben in diesen Tagen leider andere. Und plötzlich spielen dann Dinge wie Style oder die geplante PR-Strategie nur noch eine untergeordnete Rolle, denn in den USA steht Grundsätzliches in Frage und ein Land am Abgrund. Das Statement des Duos dazu, geteilt über soziale Netzwerke, ist zweifellos ein klares: “Fuck it, why wait. The world is infested with bullshit so here’s something raw to listen to while you deal with it all. We hope it brings you some joy. Stay safe and hopeful out there.” Und während die Beats wie Maschinengewehrsalven im ersten Track „Yankee And The Brave“ das Hirn noch ordentlich durchschütteln, ergänzt dieses den Soundtrack zu den Ereignissen noch um frühere Alben wie “It Takes A Nation Of Millions To Hold Us Back” und „Fear Of A Black Planet“, mischt die Jukebox aus der Erinnerung die Singles „Fight The Power“, „Fuck The Police“ und den unvermeidlichen „Cop Killer“ hinzu. Der Spaß ist vorbei, es ist ernst und es war wohl lange nicht mehr so dringend ... [mehr]


1
CLIPPING
"Visions Of Bodies Being Burned"

Gemacht für Tage wie diese: Es gibt wohl kaum einen besseren Moment, um über Clipping und ihr aktuelles Album zu sprechen. Da schickt sich eine der ältesten Demokratien dieses Planeten an, im Chaos zu versinken, weil ein durchgeknallter Egomane meint, mal eben alle über die Jahrhunderte gewachsenen und bislang verbindlichen Regeln außer Kraft setzen zu dürfen. Und die Hälfte der Bewohner dieses einst so stolzen Landes hat ihn genau dafür ins Amt gehoben und schaut ihm nun begeistert dabei zu, wie er ihrer aller Untergang herbeiregiert. Aus Hope and Glory ist längst Hate and Fury geworden - es ist der Horror. Und wenn man zu diesem Szenario noch einen Soundtrack braucht, dann ist dies unbedingt „Visions Of Bodies Being Burned“. Im Zweifelfall, wenn also nicht zur Hand, würde es natürlich auch der Vorgänger „There Existed An Addiction Of Blood“ tun, denn schon 2019 haben Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes mit ihrer dritten Studioplatte Bahnbrechendes in Sachen Noise Rap abgeliefert ... [mehr]

Donnerstag, 10. Dezember 2020

Brandão Faber Hunger: Näher beieinander

Brandão Faber Hunger
„Ich liebe dich“

(Rough Trade)

Die meisten von uns werden sich, wenn sie einst an dieses Jahr zurückdenken, vor allem daran erinnern, was unser Handeln vornehmlich bestimmt hat: Zweifel gab es, Ungewissheit, Ängste, Sorgen, Hoffnung gab es und Trotz, aber auch Wut und Hadern. Die Momente ausgelassener Fröhlichkeit, der Ausschweifung und des ungetrübten Glücks waren rar gesät, Liebe und Zärtlichkeit schienen um so kostbarer. Der Soundtrack dazu ist schnell gefunden, Zorn, Hohn und Frust haben eigene Algorithmen generiert und werden Tag um Tag gefüttert, kein Ende in Sicht. Umso wertvoller deshalb ein Album wie dieses. Wir erinnern uns: Wie schwer fällt es einem selbst in unbeschwerten Tagen, Zuneigung, Hingabe und Sehnsucht in Worte zu fassen – ein „Ich hab dich lieb“ oder „Ich mag dich“ ist schnell dahingesagt, aber „Ich liebe dich“ kommt uns nur selten über die Lippen, kostet Überwindung, fordert unbedingte Wahrhaftigkeit ein.

Sophie Hunger, Dino Brandão und Julian Pollina alias Faber sind schon über lange Zeit Geschwister im Geiste, „selbstironische Schwermut, die unbedingte Verteidigung der Leidenschaft und das Prinzip Hingabe“ bilden ihre „gemeinsame DNA“. Sie leiden zusammen unter den Einschränkungen, die ihnen die Krise, die Isolation auferlegt, keine Auftritte, keine Bühnen, keine Rückkopplung, kaum Bestätigung. Und sie erfahren als Freund*innen die Wandlung der Gesellschaft, den zunehmenden Rückzug ins Private, die Abkapselung, die Einengung der Gedanken, nicht selten Ohnmacht und Kapitulation. Der Wunsch deshalb, „der Kälte und Distanz unserer Zeit Wärme und Geborgenheit entgegenzusetzen … das Herz also nicht zu opfern auf dem Pfade der Vernunft, sondern seine immerwährende Überlegenheit zu demonstrieren“ hat sie schließlich nach Südfrankreich verschlagen, um ein Dutzend Lieder aufzunehmen.



Sparsam instrumentiert, begleiten Pollina, Brandão und Hunger einander und würde die Bezeichnung wegen anderweitiger Verwendung nicht in die Irre führen, wollte man die Platte am besten mit „Raw Power“ überschreiben. Ungekünstelte, sehr intime und sinnliche Bekenntnisse, jede/r einzelne übernimmt federführend einen der drei Titelsongs, jede/r auf ihre und seine unnachahmliche Weise. Fabers dröhnender, oft klagender Bass, Brandão eher sanft und bis hinauf ins Falsett und Hunger mit den zuversichtlichen, aufgehellten Momenten – ein jedes Mal kommt die Kraft aus der Direktheit der Worte und der Einfachheit der Arrangements. Und wenn dazu eine Gitarre kratzt, wohldosierte Streicher schwelgen und Hunger am Piano die Töne tupft, dann will einem manchmal das Herz überlaufen vor Rührung.

Dass die drei in schwyzerdütscher Mundart singen, mag den Genuss auf den ersten Blick verkomplizieren. Tatsächlich behütet es die Texte davor, nach und nach in den Hintergrund zu verschwinden, wie es uns Deutschen gern mit anderen Fremdsprachen ergeht. Diese hier ist der unseren sehr verwandt, wir spüren den Zeilen nach, mühsam vielleicht am Anfang, aber Diktion und Melodie der Verse sind einfach zu bezaubernd und wenn wir dann beim zweiten oder dritten Hören wieder eine Bedeutung ausmachen können, löst das wiederum kleine Glücksgefühle aus. Beim bösen „Mega Happy“ etwa, wenn der Faber über allgegenwärtiges Spießertum, Botoxspritzen und die Sinnlosigkeit unseres Daseins grantelt; wenn die Hunger eben jenen Hunger der Leidenschaft besingt oder wenig später lakonisch feststellt, die Welt könne so schlimm sein wie sie wolle, solange noch genügend Eis im Kühler ist.

Es ist nicht zwingend notwendig, kann aber grundsätzlich nicht schaden, wenn man sich beim Anhören des Albums das eine oder andere Glas Wein mehr einschenkt, schließlich schlagen wir, wie Faber nicht müde wird zu betonen, allzu selten über die Stränge und manchmal kann selbst ein klitzekleiner Kontrollverlust ganz heilsam sein. So oder so, vielleicht läßt sich die Atmosphäre ja ein Stück weit erahnen, die sich dort und damals im Studio „La Fabrique“ in Saint-Rémy de Provence eingestellt hat und die die drei nun, zu unserem Glück, in dieses schwarze Plastik haben pressen lassen (ein Stream aus der Datenwolke klingt hier so unpassend wie selten zuvor). Und am Ende empfindet manche/r möglicherweise auch eine gewisse Dankbarkeit – für die Idee und für deren Gelingen, für das Kunststück also, uns mit diesen Liedern ein wenig vom Gefühl der Nähe und Zärtlichkeit zurückzugeben, das wir dieser Tage oft so schmerzlich vermisst haben.



Nightshift: Nicht zu verwechseln

Man muss sich schon ein wenig Mühe geben, will man etwas über diese schottische Band in Erfahrung bringen. Das liegt zum einen daran, dass sie so lange noch nicht existiert - erst 2019 fand das Quintett in dieser Konstellation gemeinsam den Weg ins Studio, um ihr selbstbetiteltes Debüt aufzunehmen. Zum anderen könnte es auch der Bezeichnung selbst liegen, denn Nightshift übt offenbar auf feierwütige Hobbymusiker*innen einen sehr großen Reiz aus und so gibt es unzählige Party- und Coverkapellen gleichen Namens auf dieser Welt und selbst in ihrer Heimatstadt Glasgow findet sich mindestens eine davon. Also: Bitte nicht verwechseln! Denn es wäre zu schade, würde man Eothen Stearn und Kollegen aus dem Blick verlieren, machen sie doch wirklich einen bemerkenswerten Sound zwischen Post-Punk, No Wave und Indierock. Angefangen haben sie beim Label CUSP Records, mittlerweile sind die fünf bei Trouble In Mind in Chicago gelandet und dort ist nun auch ihre neue Single "Make Kin" erschienen - im Frühjahr 2021 folgt dann das dazugehörige zweite Album "Zöe".

TroubleInMind · Nightshift "Make Kin" (Trouble In Mind Records)

Ghostpoet: Bittere Zwiesprache

Ein kleines Wort in Klammern ist bringt die Lösung, der Rest ist tiefe Dunkelheit: Der britische Künstler und Wahlberliner Obaro Ejimiwe alias Ghostpoet hat im Mai dieses Jahres sein fünftes Album veröffentlicht, es ist, was nicht weiter verwundert, wieder ein sehr düsteres geworden - gleichwohl war er selten besser als hier. Heute nun überrascht er mit einem neuen Stück, das er zunächst der gleichen Platte zuordnet, bei genauerem Hinsehen heißt diese aber jetzt "I Grow Tired But Dare Not Fall Asleep (Again)", ein digitaler Re-Release mit Bonustrack also. Wenn er "Bruised Fruit" allerdings an den Anfang stellt, spricht das nicht gerade für die Besserung seiner Stimmungslage, denn das sehr reduzierte Stück kommt als Zwiesprache mit dem Schöpfer daher und viel Hoffnung lässt sich nicht herauslesen. Von müden Knochen, schwer lastender Stille, Tristesse und Beklemmung ist die Rede, der Chorus gipfelt in einem Bekenntnis, das zugleich Bitte ist: "Lord I tried, but I'm a dead weight, leave me behind". Nichts, woran man sich aufrichten könnte - aber die Tage und die Nächte sind eben manchmal nicht danach.