Samstag, 19. Dezember 2020

Alicia Gaines: Zurück zum Selbst

Man trifft ja hierzulande leider immer noch Unbelehrbare, die meinen, sie müssten unter den gänzlich ungerechtfertigten Einschränkungen des öffentlichen Lebens unvorstellbar leiden. Hier empfiehlt sich ein kurzer Blick in die USA, um sich zu vergegenwärtigen, wieviel unermessliches Leid von einem Menschen angerichtet werden kann, der sich allen wissenschaftlichen Ratschlägen verweigerte und seine Landsleute davon überzeugen wollte, dieses Virus werde sich von einem Moment auf den anderen einfach so in Luft auflösen. Dass seine Zeit abgelaufen scheint, ist da wahrlich nur ein schwacher Trost. Chicago im Staate Illinois belegt zwar auf der traurigen Hitliste der am stärksten von der Krise betroffenen amerikanischen Großstädte keine führende Platzierung, doch auch in Windy City wütet die Pandemie ausreichend schlimm, auch hier regieren seit langem schon Angst und Misstrauen, bestimmen Quarantäne und Lockdown einmal mehr die Tagesordnung. Schlimm für die Ärmsten und die Schwächsten, wozu, das machte kürzlich Chicagos Bürgermeisterin Lauri Lightfoot schmerzlich öffentlich deutlich, vor allem die schwarze Bevölkerung gehört. Unangenehm nicht zuletzt auch für Künstler*innen, denen fast das komplette Betätigungsfeld genommen ist. Erfreulich deshalb, dass Alicia Gaines, Bassistin der Band Ganser - in diesem Jahr mit dem tollen Album "Just Look At That Sky" (Felte Records) - trotzdem Zeit und Muße hatte, uns ein paar ihrer diesjährigen Favoriten näherzubringen und mit entsprechenden Kommentaren zu versehen. Gaines, die sich auch als Graphikdesignerin einen Namen gemacht hat, ist weit davon entfernt, nur im eigenen Art-Rock/Post-Punk-Garten zu wildern und um lohnende Tipps in Sachen Musik ohnehin nie verlegen (erst kürzlich kam sie mit dem furiosen Debüt der britischen Fusion-Jazz-Legenden This Heat aus dem Jahr 1979 um die Ecke). Und so erwarten uns auch hier eine Reihe von Überraschungen...

Fiona Apple
"Fetch The Bolt Cutters"

"Ich glaube, dieses Album hat die Menschen so intensiv angesprochen, weil es wirklich unter die Haut geht. Indem Apple in einige der tiefsten, unruhigsten Ecken ihres Geistes schaut, schaut sie auch in unsere. Die Themen dieser Platte sind so persönlich, dass sie eine Art kollektives, unterbewusstes Meer von Bedürfnissen erreichen, die wir alle teilen. Es gibt einen raffinierten Trick in ihrem bekenntnishaften Stil, der mich nach vorne bringt, mich aber genauso unruhig zurücklässt wie dieses Werk. So nah wir dem, was in Fiona Apples Kopf vor sich geht, mit dieser Musik zu kommen glauben, wir werden sie nie so klar sehen, wie sie sich selbst sieht."

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Kate NV
"Room For The Moon"

"Es gibt bestimmte Künstler*innen, bei denen ich es vermeide, zu viel zu recherchieren, und Kate NV fällt unter diese Kategorie. Dieses russische Art-Pop-Album verweist auf die besten Teile der Geschichte dieses Sounds und bietet gleichzeitig eine völlig neue Perspektive. Nachdem ich "Room For The Moon" gehört habe, bin ich sofort wieder in Martin Dupont, das Yellow Magic Orchestra und Fad Gadget eingetaucht. Zudem hat Kate NV auch einige der originellsten Musikvideos produziert."

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keiyaA
"Forever, Ya Girl"

"Diese Platte ist so einzigartig, dass ich mich dabei ertappt habe, sie auf Repeat zu hören, um ihre Produktion zu entschlüsseln. Es gibt so viele Verankerungen zum traditionellen Neo-Soul-Sound, trotzdem findet keiyaA immer wieder neue Wege findet, um in experimentelle Gefilde abzuschweifen. Anstatt ihre Stimme an die Musik anzupassen, beugt sich diese Musik dem Gesang und windet sich um ihre Gedanken auf eine Weise, die wiederum nicht schlecht zu Fiona Apples 'Fetch The Bolt Cutters' passt."

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Protomartyr
"Ultimate Success Today"

"Protomartyr klingen durchweg wie das Ende der Welt. Auf 'Ultimate Success Today' fühlt sich der kollektive Sound an wie ein Mann, der sich einer massiven, bedrückenden und definitiv tödlichen Flutwelle gegenübersieht. Er sah die Welle allerdings schon lange kommen - die Band hat es sich auch auf früheren Alben zum Anliegen gemacht, uns zu sagen, dass diese Welle längst auf dem Weg ist. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Erliegen und der Kapitulation, und Protomartyr finden ihre Erlösung, während sie von den brechenden Fluten des Unheils und den Sirenenhörnern verschluckt werden."

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Clipping.
"Visions Of Bodies Being Burned"

"Es gibt da diese einzigartige Sequenz nach 18 Sekunden im vorletzten Track "Enlacing", die vielleicht und  passenderweise mein einprägsamster Musikmoment des Jahres ist. Der eingängige und so vertraute Aufbau des Intros schwillt zu voller Erwartung an, bevor er wie ein Ballon zerplatzt und der Boden aus der Produktion auf eine solch komplette Art und Weise herausfällt, dass ich beim ersten Hören zurückgescrollt und immer wieder versucht habe, die Effekte herauszuhören, die ein solch plötzlichen Fall in die absolute Schwärze, in die Trostlosigkeit möglich machen. Das ganze Jahr über war ich irgendwie damit beschäftigt, dieses Gefühl für mich herauszuarbeiten - und Clipping. haben es geschafft, das in Musik umzusetzen."

Eine kurze Nachbemerkung noch: Die Antwort auf die Frage, welche denn ihre musikalischen Allzeit-Favoriten seien, fiel Alicia Gaines dann nicht ganz so einfach. Was Wunder, wer legt sich schon gern fest, wenn so viel von Stimmungen, also den persönlichen Hochgefühlen und Tiefschlägen abhängt und jeder Gemütszustand nach anderen Ausdrucksmöglichkeiten, einem anderen Soundtrack verlangt. Für die Zeit der Quarantäne aber waren es dann letztendlich diese fünf Kandidaten - Änderungen jederzeit möglich:

Talk Talk "Spirit of Eden"
Thom Yorke "ANIMA"
Supergrass "In It For the Money"
Blonde Redhead "Fake Can Be Just As Good"
Peter Gabriel "3 (Melt)"

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