Sonntag, 29. November 2020
DB Armitage: Floating in space
Benefits: Mitten ins Gesicht
Faux Real: Unterhaltung garantiert
International Teachers Of Pop: Nachsitzen
Freitag, 27. November 2020
Shelter Boy: Vielseitig begabt
Donnerstag, 26. November 2020
Christine And The Queens X Indochine: Neudeutung
Mittwoch, 25. November 2020
Arab Strap: Zeichen der Zeit
Nadine Shah: Die Unruhestifterin [Update]
„Kitchen Sink“
(Infectious Music)
Schon verwunderlich, dass große Supermarktketten für Künstler*innen nicht längst Aufkleber haben produzieren lassen, auf denen sie ihre Kunden mit folgendem Hinweis zu warnen: „Achtung – der übermäßige Genuss dieses Produktes könnte sie nachhaltig verunsichern!“ Klar wäre dann: Nadine Shah, gebürtige Britin mit norwegischen und pakistanischen Wurzeln, hätte sich ein Dauerabonnement darauf ehrlich verdient. Und würde sie wohl als Auszeichnung verstehen. Seit sie ihre Karriere 2012 mit der EP „Aching Bones“ startete, hat sie sich in punkto direkter Ansprache und bitterbösem Sarkasmus nie zurückgehalten, schon auf ihren beiden Alben „Love You Dum And Mad“ (2013) und „Holiday Destination“ (2017) beschäftigte sich die streitbare Frau mit Themen wie Feminismus, Antiislamismus, Flüchtlingselend und Rassenhass. Toxische Männlichkeit in Verbindung mit überkommenen weiblichen Rollenbildern – hier als angeborene, tradierte Allmachtsfantasie, dort die Unterordnung, das Schamgefühl und der Rückzug – all diese Auswüchse und Verirrungen gelten ihr als dauerhafte Angriffsziele und gerade die neueste, dritte Platte „Kitchen Sink“ ist voll von wütenden Grußadressen.
„If anyone takes offence to anything on Kitchen Sink, they’re the one with the problem, not me“, hat sie gerade dem Guardian gesagt und es ist anzunehmen, dass viele Menschen beim Anhören der Platte – auch wenn sie in ihren Texten vieles bewusst pointiert und überhöht – durchaus das mulmige Gefühl beschleicht, ertappt worden zu sein. Schon das Cover spricht Bände: Sorgsam arrangierte Langeweile im Stile der Dinnerparties der 60er, brav, öde, traurig (als Deutsche/r würde man wahrscheinlich noch Mettigel und Erdbeerbowle ergänzen). „Ladies for babies and goats for love“, heißen die beißenden Zeilen dazu, aufgegeilter Jagdinstinkt trifft servile Gefügigkeit, so soll es laufen, so macht es Spaß. Man hat die Bilder dazu vor Augen und sie stammen nicht unbedingt aus der miefigen Spießerhölle vergangener Jahrzehnte, man findet sie ebenso hinter den Vorhängen gutbürgerlicher Reihenhäuser. Dort also, wo die Gerüchte aus den Spülbecken wabern wie giftige Dämpfe – schöner Reim dazu: „Don't you worry what the neighbours think, they're characters from kitchen sink, forget about the curtain-twitchers, gossiping boring bunch of bitches“ („Kitchen Sink“).
Und das alles mit tiefer, ungemein sinnlicher Stimme vorgetragen, wir sind durcheinander, David Lynch läßt freundlich grüßen. Shah wäre also nicht die Kämpferin, wenn sie nur die Männer im Blick hätte, auch ihresgleichen bekommt ordentlich was zum Nachdenken. So singt sie in „Trad“ (Update: Video) von der mutlosen Genügsamkeit, mit der sich manche Frau aus Angst vor Alter und finanzieller Notlage in den Ehe-Kokon zurückzieht, unzufrieden, lustlos, aber abgesichert. „Shave my legs, freeze my eggs, will you want me when I am old? Take my hand, whilst in demand and I will do as I am told“, heißt es dort, und weiter: „Take me to the ceremony, make me holy matrimony“. Natürlich weiß Shah um die Sorgen und Nöte der Frauen, wenn sie ihnen ins Gewissen redet. Der Song also eher ein Spiegel, der zeigen soll, wohin Bequemlichkeit und Kapitulation führen können. Der Sound dazu ist im Übrigen nicht weniger spannend, mal jazzig groovende Bigband, mal dreckiger, elektrischer Blues, auch Piano und Blockflöte dürfen nicht fehlen. Eine Platte, die Unruhe stiftet, aufwühlt, antreibt. Sicher nicht das Schlechteste für all jene die meinen, der Kampf sei schon gewonnen – auf welcher Seite auch immer.
Montag, 23. November 2020
LIINES: Gute Wahl
Sonntag, 22. November 2020
Lael Neale: Die Summe der einzelnen Teile
Babeheaven: Über die Musik hinaus
Babeheaven
„Home For Now“
(AWAL)
Wenn es denn so gut passt, warum sollten wir das Zitat nicht noch einmal verwenden? Vor zwei Jahren hat Nancy Andersen, Sängerin und Songschreiberin des Londoner Duos Babeheaven, der Modezeitschrift VOGUE ein Interview gegeben. Dabei ging es nur am Rande um die richtige Lotion, die man zum Abschminken am Abend wählen sollte, sondern eher um Andersens Rolle in der Band und ihr Musikverständnis. „Our music sounds better in winter“, sagte sie dem Magazin und deshalb ist es eine glückliche Fügung, dass die Veröffentlichung ihres und Partner Jamie Travis‘ längstens erwarteten Debüts genau in diese Jahreszeit fällt, noch dazu in einen Winter, der mutmaßlich ein sehr schwieriger werden wird. Soll heißen: Man wird diese Musik noch brauchen in den nächsten Wochen und Monaten. Denn die anschmiegsamen Grooves, die sanften Beats und vor allem Andersens betörender Gesang sind wahre Seelenstreichler, sie umfangen einen, umhüllen mit Melancholie, Zärtlichkeit, Wärme. Gegen Vergleiche mit Massive Attack, London Grammar, den Cocteau Twins oder Morcheeba hat die Band, so liest man, nichts einzuwenden, wer wehrt sich schon gegen Komplimente ...
Wo der Sound angenehm vertraut scheint, drücken sie dem Ganzen textlich ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stempel auf. Die Songs von Babeheaven sind sehr intime Bilder erlebter Gefühlswelten, es geht um Familie, Freundschaft, um Zweisamkeit, Sehnsüchte, Verletzlichkeiten. Andersen singt von den dunklen Momenten, mit denen wir konfrontiert werden, die uns entmutigen, ja zerstören („Cassette Beat“), denen wir aber unsere innerste Hoffnung und Zuversicht entgegensetzen können. Auch wenn, wie in „Craziest Things“, wir selbst es sind, die durch Ungeduld, Trotz und Unachtsamkeit die Geduld der anderen auf eine harte Probe stellen. Der Verlust spielt nach wie vor eine große Rolle – beide Musiker*innen haben früh ihre Mutter verloren, beide haben mit „Heaven“ und „It’s Not Easy“ schon früher versucht, den Schmerz darüber in ihrer Musik zu verarbeiten und auch auf „Home For Now“ tauchen Ängste und die anhaltende Suche nach Geborgenheit immer wieder auf. Politische Zeilen findet man auf dem Album dagegen so gut wie keine, dem Radiosender FM4 hat Andersen erzählt, dass ein Stück wie „Swimming Up River“, das sie im Hinblick auf die Black-Lives-Matter-Bewegung geschrieben hat, für sie unheimlich schwierig war.
Trotzdem geht sie sehr offen mit ihrer Rolle als Künstlerin um, in einem Statement aus den Linernotes des Albums schildert sie den inneren Kampf um Standpunkt und Selbstverständnis: „Als POC und plus-size-woman habe ich mich auf der Bühne noch nie so wohl gefühlt", berichtet sie. „Während des Lockdowns habe ich viel mehr Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie ich wahrgenommen werden möchte. Früher hatte ich wirklich schlimme Angst vor einer Show - ich stürzte mich regelrecht in einen Song und schaute erst am Ende des Liedes auf, um die Reaktionen von Band und Publikum zu sehen. Es war für mich sehr wichtig, daran zu arbeiten und zu erkennen, dass ich aus einem bestimmten Grund dort oben stehe, insbesondere als farbiger Mensch. Ich weiß jetzt um die Bedeutung, dass eine Band von jemandem geführt wird, den man im Alltag normalerweise übersieht - ich muss nicht übersexualisiert zu werden, unsere Musik braucht keine RnB-Schublade, nur wegen meines Haut- oder Körpertyps.“ Sätze, die heute, da Rassismus, Misogynie und Bodyshaming noch immer an der Tagesordnung sind, nicht oft genug ausgesprochen gehören. Und die diese Platte über das bloße Hörerlebnis hinausheben.
Samstag, 21. November 2020
Waves Of Dread: Selbstbezichtigung
"I'm very happy to be bringing out this new version of Stars. I've had the idea to do a new take of the song since its original release and I'm over the moon with the results. Initially, I wanted the song to have a similar feel to Waves of Mutilation (UK Surf) by Pixies - the bass and drums driving throughout is certainly taken from their style of playing, but the song naturally took on a bigger, more dreamy feel during recording, not unlike the band namechecked in the song, Slowdive."
Donnerstag, 19. November 2020
Bluthund: So gar nicht artverwandt
"StromGitarrenWutRap"
(OMN Label Services)
Ja was denn nun?! Grundsätzlich ist es ja so, dass Bands mit Tiernamen eine schwierige Sache sind. Denn meistens passt das Tier nicht zum Menschen (auch wenn das angeblich eine eiserne Regel sein soll), es entstehen Missverständnisse. Das gilt weniger für die harmlosen unter den Artgenossen wie Vögel, Käfer, Pferde und selbst Ziegen, sondern im Speziellen für Hunde und Hundeähnliche - wenn wir da mal auflisten, ergeben sich schon so einige Fragezeichen: Dog Eat Dog beispielsweise, Dackelblut, die Lassie Singers und eben auch die doch recht alberne, präpubertäre Chaotentruppe von der Bloodhound Gang. Der Bluthund also, da sind wir beim Thema. Unsere vierköpfige Kapelle hier, die wir vor einiger Zeit schon mal angespielt haben, hat nämlich mit der Spaßtruppe aus Amerika genauso wenig zu tun wie mit dem ihrem Wappentier. Diese Rasse mit dem vermeintlich martialischen Namen wird im Lexikon nämlich als "sanftes und anhängliches" Tier beschrieben, das "ruhig, freundlich, zurückhaltend und umgänglich" im Kontakt mit Menschen sei. Und da beißt sich - äh, der Hund in den Schwanz, denn von diesen Eigenschaften ist auf der neuen EP "StromGitarrenWutRap" so gar nichts zu hören. Das Quartett brüllt vielmehr seine Wut in vierfacher Potenz aus den Boxen, das ist laut, das ist dreckig und von Zurückhaltung oder Sanftmut fehlt jede Spur. Vielmehr geraten die fünf Stücke zur zornigen und natürlich politischen Abrechnung - mit militaristischen Saubermännern und Scheitelträgern ("Soldatinnen und Soldaten"), fehlgeleiteten, gern auch anonymen Hasspredigern jeder Coleur ("Halt die Fresse ja!!!"), schärfer als Die Ärzte gehen sie mit dem Punk selbst ins Gericht und Leute, die wegen jedem Mist gleich Amok laufen und einen auf Michael Douglas machen, kriegen auch gleich auch eine mit ("Scheisswut"). Für den aktuellen Track "Wir fackeln alles ab" haben sich Bluthund übrigens mit den Berliner Krawallos The Toten Crackhuren im Kofferraum zusammengetan, Regie von Boris Saposchnikov. Stilistisch bewegt sich der Lärm irgendwo zwischen Deichkind und Turbostaat, Metall-Rap auf hoher Drehzahl also. Irgendwann aber sollten sie mal im Tierheim vorbeischauen, eine Entschuldigung wäre dann doch fällig.
Dienstag, 17. November 2020
Bleachers aka. Jack Antonoff: Auf eine neue Stufe
“‘Chinatown’ starts in NYC and travels to New Jersey. That pull back to the place I am from mixed with terror of falling in love again. Having to show your cards to someone and the shock when you see them for yourself. Thinking you know yourself and where you are from…. having to see yourself through somebody who you want to stay… I started to write this song with these ideas ringing in my head. To further understand who you are pushes you to further understand where you are from and what that looks and sounds like. There are pieces in that that are worth carrying forever and pieces worth letting die. ‘Chinatown’ and ‘45’ are both the story of this—‘Chinatown’ through someone else, ‘45’ through the mirror. As for Bruce, it’s the honor of a lifetime to be joined by him. He is the artist who showed me that the sound of the place I am from has value and that there is a spirit here that needs to be taken all over the world.”
Montag, 16. November 2020
Haiku Hands: Simpler Plot, Klasse Pop
Sonntag, 15. November 2020
Kala Brisella: Schöpferische Hysterie
BETTEROV: Das Leben in Liedern
Mira Mann: Komm einfach
"Komm einfach. Ausatmen ausatmen ausatmen, warten, dass alles stillsteht. Sonne, sanfte frische Sonne. Komm einfach, keine Grenze, keine Gefahr. Komm einfach zu mir und dann bleib Haut an Haut. Wir fangen an zu entspannen. Wir spüren die Kraft, den Platz, den Spielraum. Hey Baby das ist der Sommer an der Küste mit der Luft und dem Wind und den leichten Tagen. Kleine Wasserkörner liegen in der Luft, kühl. Wir sitzen rum und schauen und warten zwanzig Minuten. Der leichte Muskelkater im Nacken. Ich leg den Kopf schief, ich dehne. Ich spüre den hellen schönen Schmerz. Mein Körper ganz da, unerforscht, wechselhaft. Mein Körper dein Körper verändert sich ständig. Und du streichst über meine weichen Stellen und Spucke und Zähne. Und Sonne Sonne Sonne. Sanfte frische Sonne. Wasser. Luft. Komm einfach, keine Grenze, keine Gefahr. Komm einfach zu mir und dann bleib Haut an Haut."
Samstag, 14. November 2020
Kruder und Dorfmeister: Frische Erinnerung
Kruder und Dorfmeister
„1995“
(G Stone Recordings)
Das ist also das Album, das uns zu Nostalgikern macht. Weil es trotz aller Beteuerungen eben weniger eines für Menschen ist, die 1995 geboren sind, sondern eher für jene, die in dieser Zeit in den Bars und Clubs die Nacht feierten. Und einem/einer jeden fallen jetzt unzählige Orte und Begebenheiten ein, die mit der Musik von Peter Kruder und Richard Dorfmeister zu tun haben, die davon erzählen, wie man damals diesen unglaublich coolen und smoothen Sound nicht nur erlebt, sondern regelrecht aufgesogen hat. Ob hierzulande auf dem Dancefloor des Hamburger MOJO-Clubs oder bei Michael Reinboths Into Somethin‘ in der Münchner Muffathalle, das Duo war für ein paar Jahre sprichwörtlich tonangebend – dass die Platten der beiden dann den Weg von der Nacht in den Tag fanden und fortan auch immer öfter in Coffeeshops dem schwatzhaften Gastrovolk zur Ablenkung und Unterhaltung dienten, dafür kann man den zwei Wienern kaum einen Vorwurf machen. Die Qualität ihrer Arbeit schmälerte das ohnehin nicht, die nutzte sich nur leider etwas schneller ab. Es hätte Nachschub gebraucht, doch wie sie gerade in Interviews erzählen, war der Hype so überwältigend und allumfassend, dass für mehr keine Zeit blieb – und so kam es, dass einiges an Material ungehört auf Bändern in Kisten verschwand, das nun, über zwanzig Jahre später erst mit großem Aufwand aufpoliert und wieder zugänglich gemacht wurde. Eben „1995“.
Wer sich schon damals nicht darauf beschränkte, das Werk des Duos nur als entspannte Klangkulisse wahrzunehmen, sondern das Vergnügen schätzte, den Klangkosmos aus Dub, Downtempo, Jazz, Trip-Hop und Drum And Bass näher zu ergründen, wird auch an den wiederentdeckten Tracks viel Freude haben. Denn die Einflüsse von Morricone, Mancini, Barry, Brubeck, Davis und vielen mehr sind wieder überdeutlich zu hören und kommen, garniert mit den eleganten Beats und äußerst präzisen Arrangements, so frisch daher, als hätte sich dazwischen nichts Wesentliches getan, als könnte die Zeit all dem nichts anhaben. Die Singles „Johnson“, „Swallowed The Moon“ und vor allem „Kingsize“ wurden mit Bedacht gewählt, weil sie exemplarisch das feine Gespür von Kruder und Dorfmeister für klug abgemischtes Hitfutter unterstreichen, die besagten Referenzen finden sich dann aber vor allem in den restlichen Stücken, die zudem mit einer Vielzahl kluger Effekte glänzen können. Ganz besonders gelungen ist das gut dreizehnminütige „One Break“, bei dem sich aus einer maximal relaxten Trancenummer allmählich knackige Breakbeats schälen. Nicht ganz ohne eine gewisse Ironie übrigens kommt das Album gerade jetzt in die Läden – das Erlebnis ausgelassener Tänze bis in die frühen Morgenstunden ist aus Gründen derzeit legal nicht zu haben, die Sehnsucht danach dürfte dem Erfolg einer Platte wie „1995“ noch einen zusätzlichen Schub geben.
Donnerstag, 12. November 2020
Billie Eilish: Allein unterwegs
Dienstag, 10. November 2020
The Clockworks: Neues Zuhause
Freitag, 6. November 2020
All diese Gewalt: Im Zweifel für den Zweifler
All diese Gewalt
„Andere“
(Glitterhouse)
Vor zehn Jahren sang einmal ein kluger Kopf diese Zeilen: „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn, im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen Willen wie aus Wachs. Im Zweifel für die Zwitterwesen aus weit entfernten Sphären, im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären.“ Es ist nicht anzunehmen, dass Dirk von Lowtzow, Sänger und Texter der Hamburger Kapelle Tocotronic, schon damals wusste, was Max Rieger im Jahr 2020 umtreiben würde. Er wollte wohl einfach eine Lanze brechen für die scheinbar Schwachen, Unentschiedenen, Zögerlichen. Und er brach sie unbewusst eben auch für den Mann, der sich hinter dem Pseudonym All diese Gewalt verbirgt, der sonst mit seiner Band Die Nerven deutlich härtere Töne anschlägt. Und der ganze vier Jahre an diesem, seinem zweiten Soloalbum arbeitete, mit ihm haderte, kämpfte und selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gänzlich davon überzeugt war. Rieger hat dieses zähe Ringen mit sich selbst öffentlich gemacht und für einiges Erstaunen gesorgt, schlussendlich übergab er das Werk, wie er dem Radiosender detektor.fm sagte, aber dann doch dem Produzenten, wohl wissend, dass seine Arbeit getan war und diese so schlecht nicht sein konnte.
Tiefstapelei kann man das angesichts des nun hörbaren Ergebnisses nennen. Wo von Lowtzow dem Zweifel einen Song widmet, orchestriert ihm Rieger eine Hymne. „Andere“ ist, zusammen mit dem Film von Nicolas Ohnesorge und David Spaeth, eine dramatische, auch romantische Würdigung unserer eigenen Unvollkommenheit und Befangenheit geworden: Endloser Wald, dunkle Fluchten, dann gleißendes Licht, dazu das fahle, ernste Gesicht von Luzia Oppermann und die eingespielten Stimmfetzen aus dem Automaten, deren künstlichen Klang Rieger „suizidal“ nennt. Das alles ist im besten Sinne großes Kino, starke Bilder treffen wuchtige, fast mystische Klänge, ein wahrhaft faszinierendes Schauspiel. Bis man dort ankommt, hält Rieger für die Zuhörer*innen ähnlich Wundersames und viel Abwechslung bereit. „Erfolgreiche Life“ beispielsweise, die aktuelle Auskopplung, kommt als synthetischer Wavepop daher, das Video spielt mit verstörenden Bezügen zu den Folterszenen aus Guantanamo und der geheimnisvollen Düsternis von Kubricks „Eyes Wide Shut“.
„Etwas passiert“ (und später „Blind“) wiederum reicht ein vergleichsweise sparsamer Pianopart, um die Unentschlossenheit und Ohnmacht des Erzählers zu illustrieren – „Alle die ich kenne, sind längst nicht mehr hier“, singt er und sieht sich dennoch außer Stande, für sich selbst etwas daran zu ändern. Rieger hat in besagtem Interview versucht, das eingangs erwähnte Zitat von der Unzufriedenheit aufzulösen, er sei ohne das sonst gewohnte Korrektiv seiner Mitmusiker teilweise verloren gewesen mit all den Möglichkeiten und Wendungen, die solch eine Soloproduktion mit sich brächten. Für uns stellt sich, bei seinem Genie wohlgemerkt, dieses Suchen und Wechseln zwischen den Stilen als Segen heraus. Ob klackernder Synthpop (á la Depeche Mode zu Violator-Zeiten) bei „Gift“, der Waverock von „Grenzen“, die zarten Hooks mit künstlich gebrochener Stimme in „Dein“ oder das verhallt-verschwommene „Echokammer“, es bleibt ein spannender Kosmos, in den er uns mitnimmt. Die Ungewissheit, mit der sich Rieger während der Arbeit an „Andere“ konfrontiert sah und die dieses Album als roter Faden durchzieht, ist letztendlich auch Teil unseres eigenen Ichs. Und vielleicht ein oder auch der Grund, warum dieses Ablum so berühren kann.
Liines: Gar nicht so schwer
Donnerstag, 5. November 2020
Clipping: Land of Hate and Fury
Clipping
"Visions Of Bodies Being Burned"
(Sub Pop)
Gemacht für Tage wie diese: Es gibt wohl kaum einen besseren Moment, um über Clipping und ihr aktuelles Album zu sprechen. Da schickt sich eine der ältesten Demokratien dieses Planeten an, im Chaos zu versinken, weil ein durchgeknallter Egomane meint, mal eben alle über die Jahrhunderte gewachsenen und bislang verbindlichen Regeln außer Kraft setzen zu dürfen. Und die Hälfte der Bewohner dieses einst so stolzen Landes hat ihn genau dafür ins Amt gehoben und schaut ihm nun begeistert dabei zu, wie er ihrer aller Untergang herbeiregiert. Aus Hope and Glory ist längst Hate and Fury geworden - es ist der Horror. Und wenn man zu diesem Szenario noch einen Soundtrack braucht, dann ist dies unbedingt „Visions Of Bodies Being Burned“. Im Zweifelfall, wenn also nicht zur Hand, würde es natürlich auch der Vorgänger „There Existed An Addiction Of Blood“ tun, denn schon 2019 haben Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes mit ihrer dritten Studioplatte Bahnbrechendes in Sachen Noise Rap abgeliefert.
Nun gibt es in diesem Jahr beispielsweise mit Run The Jewels oder auch Algiers schon brilliante Beispiele politischer Wortmeldung, allerdings erscheinen diese im Vergleich nicht ganz so verstörend, wie sich die Realität gerade darstellt. Clipping dagegen haben genügend Albtraumhaftes im Programm, um hier bestehen zu können: Es knistert, raschelt, pfeift und kreischt, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen, zu dröhnenden, furchterregenden Klangkulissen mischen sich wuchtige, metallische Beats („Pain Everyday“), dissonantes Durcheinander („“Eaten Alive“), übersteuertes Feuerprasseln, Schafherdengeblöke und natürlich haufenweise böse Reime in teilweise atemberaubendem Tempo.
Dass sich Clipping neben dem Hip-Hop-Duo Cam And China auch Tonkünstler wie Greg Stuart oder die Jazzer Jeff Parker und Ted Byrnes ins Studio geholt hat, spricht für ihre ungebremste Experimentierfreude, die Kollaboration mit theOGM und Eaddy von der Hardcore-Truppe Ho99o9 aus Los Angeles ist dagegen fast zwangsläufig, verfolgen die beiden doch einen ähnlich kontroversen Ansatz. Unbedingt erwähnen müssen wir noch das Video zu „Enlacing/Pain Everyday“: Wie auch schon für „All In Your Head“ (2019) übernahm hier die Filmemacherin Sarah C Prinz Regie und Choreographie und hat hier (auch dank der sagenhaften Performance von Matthew Gibbs) abermals ein beeindruckend düsteres, elektrisierendes Kunstwerk geschaffen. Wären die Umstände nicht so bedrückend, es bestände Grund zu ausgelassenem Jubel – so gruseln wir uns im Stillen und hoffen inständig, dass es nicht noch schlimmer kommt.