Sonntag, 29. November 2020

DB Armitage: Floating in space

Die sonntägliche Rundreise präsentiert sich heute als eine Art Wechselbad verschiedenster Stile, Sounds und Charaktere: Den Anfang macht die Londoner Künstlerin Dalma Berger, die gerade unter ihrem Pseudonym DB Armitage ihre Debütsingle "Old Bones" veröffentlicht hat. Dem Synthpop der 80er verschrieben, verarbeitet sie in ihrem Song die Lyrics von David Bowies "Space Oddity" und weil es darum geht, das alte Selbst zurückzulassen auf dem Weg zu etwas Neuem, versucht sie dies auch im dazugehörigen Video, entstanden in Eigenregie, choreografisch umzusetzen. Was ihr, wie wir finden, eindrucksvoll gelingt. Der Track wird sich übrigens auf einer für das kommende Jahr angedachten EP befinden.




Benefits: Mitten ins Gesicht

Wir bleiben in England, reisen aus der Hauptstadt in die nordöstliche Küstenstadt Middlesbrough. Von dort stammt die Band Benefits, ein vierköpfiges Kollektiv, das laut Bandcamp seit 2019 eine Reihe spannender Singles veröffentlicht hat. Auch diese sehr elektronisch, im Gegensatz zum vorangegangenen Neuzugang allerdings sehr politisch, sehr aggressiv und mit deutlichen Wurzeln zum Hip-Hop. Die treffendste Beschreibung für ihren Sound liefern Kingsley Chapman, Robbie Major, Hugh Major und Jonny Snowball natürlich selbst: "We write songs about the urgencies that concern us. These songs are loud." In der Tat, denn die aktuelle Single "Traitors" schreit ihre Wut über die gegenwärtigen Zustände dem Zuhörer/Zuschauer direkt ins Gesicht ("We get the future you deserve!"), weiterführende Werkkunde mit "Shit Britain" und "Imperfect" hier vor Ort und ab besagter Seite.
 




Faux Real: Unterhaltung garantiert

Auch London, aber komplett andere Baustelle: Diese beiden Herren hier gehören schon lange mal in einen Post gepackt, heute klappt es endlich mal. Elliot und Virgile Arndt, zwei franko-amerikanische Brüder, haben im Mai dieses Jahres unter dem Namen Faux Real ihre selbstbetitelte Debüt-EP veröffentlicht, die Mischung, die man darauf findet, ist so wild wie ihre Live-Shows. Denn lange, bevor sie ernsthaft Musik gemacht und verkauft haben, gewannen die beiden ihr Publikum schon mit knallbunten Performances zwischen Fetisch-Party, Punk-Attitüde und Karaoke-Event oder - wie sie selbst es sagen würden: "mixing absurdist Frenglish poetry and Stooge-esque self-flagellation with ersatz athletics and improvised quasi-ballet." Das klingt angemessen strange und so ist auch ihre Musik, was für einen garantiert hohen Unterhaltugsfaktor sorgt. Im Übrigen sind sie eine der wenigen Bands, die über einen offiziellen TikTok-Account verfügen. Hier jedenfalls die Videos zu den Singles "Spooky Bois", "Kindred Spirit", "Boss Sweet", "Second Sweat" und als Bonus ein kleiner Live-Eindruck.










International Teachers Of Pop: Nachsitzen

Nummer vier sind nun ganz gewiss keine Newbies mehr, aber auch von der Insel und ein paar Neuigkeiten haben auch sie mitzuteilen: Die International Teachers Of Pop hatten ja im November 2019 einen Song im Programm, der vom angeblichen Diebstahl der Lieblingsschuhe handelte und keinen Geringeren als Sleaford-Mods-Frontmann Jason Williamson als Gast dabei hatte. In diesem Jahr erschien dann das Album "Pop Gossip" und von diesem stammt auch das Stück "A Change", zum welchem die Musikpädagogen nun ein Video präsentieren (wir flankieren hier der Vollständigkeit halber noch mit "Gaslight" und "Femenergy"). Fast zeitgleich erscheint eine Remix-EP mit drei Stücken, Sink Ya Teeth bearbeitet das Wiederhören mit "I Stole Yer Plimsoles", das ebenso bekannte "Flood The Club" kommt in einer Version von Thames Water und "Femenergy" als Honers Linguine And Clams Remix. Auf geht's!







Freitag, 27. November 2020

Shelter Boy: Vielseitig begabt

Letzte Woche BETTEROV aus Thüringen, heute dieser schlacksige junge Mann aus Sachsen - die Tage in Deutschland werden merklich kürzer, kälter und durchaus auch melancholischer. Shelter Boy ist das Projekt des jungen Dresdner Künstlers und Musikers Simon Graupner. Seit ungefähr zwei Jahren ist er einer größeren Öffentlichkeit solistisch bekannt und hat in dieser Zeit zwei EP veröffentlicht. Was nicht heißt, dass er zuvor untätig war - mehrere Jahre hat Graupner schon bei der Band Still Trees als Sänger und Gitarrist gemuckt, nun aber zählen erst einmal die eigenen Sachen. Zuerst war da die 12" "Mirage Morning", gefolgt von "Rock'n Roll Saved My Childhood" und weil sich die Vergleiche aufdrängten und die Welt Etiketten braucht, nannte man ihn fortan wahlweise die angelsächsische Variante von Mac De Marco oder King Krule. Ganz so falsch liegt man dabei mit Sicherheit nicht, schließlich hat es hier neben lockeren Britpop-Grooves auch vorsichtige Jazzelemente, Streichereinlagen und vor allem eine markante Stimme. Im Oktober nun ist seine Single "Calm Me Down" erschienen und die ist wirklich ein veritabler Hit geworden, dagegen gibt sich das aktuelle "Forever You'll Be Known" eher zurückhaltend besinnlich, schließlich geht es um Einsamkeit, Außenseitertum und jugendliche Schwermut. Das Video dazu ist übrigens unter Regie von Philipp Gladsome, Simon Graupner und Jonas Wirth entstanden. Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Graupner auch graphisch durchaus talentiert ist, auf seiner Website kann man für wenig Geld eine Reihe seiner Collagen erwerben, der Neustädter Skaterladen Feed My Soul hat sogar für kurze Zeit ein von ihm gestaltetes Board im Sortiment.






Donnerstag, 26. November 2020

Christine And The Queens X Indochine: Neudeutung

Hier mal ein kurzer Gruß aus der Sparte "Was waren das doch für schöne Zeiten!" Klar dass es sich hier nur um die 80er handeln kann. Das Jahrzehnt also, an dem sich die Geister scheiden - für die einen musikalisch so wertvoll wie keines danach, für andere eine verlorene Dekade und einzig den Retromanisten heilig. Zu den wichtigsten Vertretern aus unserem Nachbarland zählten damals bekanntlich Indochine um Nicola Sirkis und Dominique Nicolas. Letzterer ist Mitte der Neunziger ausgestiegen, Sirkis immer noch am Ball. Und hat gerade zusammen mit Heloise Letissier alias Christine And The Queens den Song "3e sexe" vom dritten Album der Band aus dem Jahr 1985 neu eingespielt, jetzt unter dem Titel "3SEX" und als Wiederentdeckung für die Queer-Bewegung gedacht. Und weil schon das Original toll war, ist es natürlich auch das Rework. Zuletzt war von der Französin übrigens die EP "La Vita Nuova" erschienen.



Mittwoch, 25. November 2020

Arab Strap: Zeichen der Zeit

Das ist jetzt gar nicht bös gemeint, aber wenn man sich Aidan Moffat und Malcolm Middleton von Arab Strap so ansieht, im Park mit Parka, Bart und Strickmütze, dann weiß man mal wieder, wie schnell die Zeit vergeht. Auf der Suche nach aktuellen Fotos fallen einem naturgemäß auch ein paar frühere in die Hände und ja, wie wir alle, haben sich auch die beiden Schotten optisch ein wenig verändert. Doch darum geht es hier nur am Rande - viel wichtiger ist, dass das Duo aus Falkirk für den März des kommenden Jahres ein weiteres Album angekündigt hat. Erst vor einem Monat gab es ja die feine Single "The Turning Of Our Bones" samt Splattervideo zu hören/sehen, nun folgt neben Plattentitel "As Days Get Dark" und gelungenem Coverartwork ein zweiter Track namens "Compersion #1".





Nadine Shah: Die Unruhestifterin [Update]

Nadine Shah
„Kitchen Sink“

(Infectious Music)

Schon verwunderlich, dass große Supermarktketten für Künstler*innen nicht längst Aufkleber haben produzieren lassen, auf denen sie ihre Kunden mit folgendem Hinweis zu warnen: „Achtung – der übermäßige Genuss dieses Produktes könnte sie nachhaltig verunsichern!“ Klar wäre dann: Nadine Shah, gebürtige Britin mit norwegischen und pakistanischen Wurzeln, hätte sich ein Dauerabonnement darauf ehrlich verdient. Und würde sie wohl als Auszeichnung verstehen. Seit sie ihre Karriere 2012 mit der EP „Aching Bones“ startete, hat sie sich in punkto direkter Ansprache und bitterbösem Sarkasmus nie zurückgehalten, schon auf ihren beiden Alben „Love You Dum And Mad“ (2013) und „Holiday Destination“ (2017) beschäftigte sich die streitbare Frau mit Themen wie Feminismus, Antiislamismus, Flüchtlingselend und Rassenhass. Toxische Männlichkeit in Verbindung mit überkommenen weiblichen Rollenbildern – hier als angeborene, tradierte Allmachtsfantasie, dort die Unterordnung, das Schamgefühl und der Rückzug – all diese Auswüchse und Verirrungen gelten ihr als dauerhafte Angriffsziele und gerade die neueste, dritte Platte „Kitchen Sink“ ist voll von wütenden Grußadressen.



„If anyone takes offence to anything on Kitchen Sink, they’re the one with the problem, not me“, hat sie gerade dem Guardian gesagt und es ist anzunehmen, dass viele Menschen beim Anhören der Platte – auch wenn sie in ihren Texten vieles bewusst pointiert und überhöht – durchaus das mulmige Gefühl beschleicht, ertappt worden zu sein. Schon das Cover spricht Bände: Sorgsam arrangierte Langeweile im Stile der Dinnerparties der 60er, brav, öde, traurig (als Deutsche/r würde man wahrscheinlich noch Mettigel und Erdbeerbowle ergänzen). „Ladies for babies and goats for love“, heißen die beißenden Zeilen dazu, aufgegeilter Jagdinstinkt trifft servile Gefügigkeit, so soll es laufen, so macht es Spaß. Man hat die Bilder dazu vor Augen und sie stammen nicht unbedingt aus der miefigen Spießerhölle vergangener Jahrzehnte, man findet sie ebenso hinter den Vorhängen gutbürgerlicher Reihenhäuser. Dort also, wo die Gerüchte aus den Spülbecken wabern wie giftige Dämpfe – schöner Reim dazu: „Don't you worry what the neighbours think, they're characters from kitchen sink, forget about the curtain-twitchers, gossiping boring bunch of bitches“ („Kitchen Sink“).



Und das alles mit tiefer, ungemein sinnlicher Stimme vorgetragen, wir sind durcheinander, David Lynch läßt freundlich grüßen. Shah wäre also nicht die Kämpferin, wenn sie nur die Männer im Blick hätte, auch ihresgleichen bekommt ordentlich was zum Nachdenken. So singt sie in „Trad“ (Update: Video) von der mutlosen Genügsamkeit, mit der sich manche Frau aus Angst vor Alter und finanzieller Notlage in den Ehe-Kokon zurückzieht, unzufrieden, lustlos, aber abgesichert. „Shave my legs, freeze my eggs, will you want me when I am old? Take my hand, whilst in demand and I will do as I am told“, heißt es dort, und weiter: „Take me to the ceremony, make me holy matrimony“. Natürlich weiß Shah um die Sorgen und Nöte der Frauen, wenn sie ihnen ins Gewissen redet. Der Song also eher ein Spiegel, der zeigen soll, wohin Bequemlichkeit und Kapitulation führen können. Der Sound dazu ist im Übrigen nicht weniger spannend, mal jazzig groovende Bigband, mal dreckiger, elektrischer Blues, auch Piano und Blockflöte dürfen nicht fehlen. Eine Platte, die Unruhe stiftet, aufwühlt, antreibt. Sicher nicht das Schlechteste für all jene die meinen, der Kampf sei schon gewonnen – auf welcher Seite auch immer.

Montag, 23. November 2020

LIINES: Gute Wahl

Über Coverversionen, insbesondere über die von Joy Division, der wohl berühmtesten Post-Punk-Band aus Manchester, ließen sich Doktorarbeiten verfassen und weil es nichts gibt, was es nicht gibt, liegen sicher schon ein Dutzend davon in den Hochschulen und Universitäten dieser Welt. Unbestritten wird sich aus diesen herauslesen lassen, dass "Love Will Tear Us Apart" der mit Abstand beliebteste Song ist, wenn es um das Nachspiel geht - wer sich die Mühe machen will, kann ja mal auf der Fan- resp. Funfacts-Seite joydiv.org nachzählen. Ziemlich weit abgeschlagen jedenfalls landet "Shadowplay" auf der Liste, was den nicht zu unterschätzenden Nebeneffekt hat, dass man das Stück sehr wohl noch hören kann, aber LWTUA schon fast zu Tode gespielt ist. Sei's drum, einen schlechten Song von Joy Division gibt es - um das Sprichwort oben mal in seine Schranken zu weisen - ohnehin nicht und wenn eine Band aus Manchester selbst ein Rework zum großen Kanon beisteuert, ist Zuhören Ehrensache. Erst Recht wenn es die LIINES sind - diese haben nämlich kurz nach Veröffentlichung ihrer neuen Single "Sorry" dem Radiosender XS besagtes "Shadowplay" für die Serie Manchester:Covered überlassen. Halb so lang wie das Original und zehnmal besser als der matte Versuch der Killers vor ein paar Jahren. Den noch verbliebenen Mitgliedern von Joy Division sollte die Version gefallen.





Sonntag, 22. November 2020

Lael Neale: Die Summe der einzelnen Teile

Bevor die neue Woche mit ihrer Hektik wieder hereinbricht, hier noch ein Fundstück aus dem Netz, zufällig aufgegabelt und gleich für schön befunden: Die Künstlerin Lael Neale hat in den letzten Jahren eigentlich Los Angeles als Wohnort favorisiert, auch wenn sie eigentlich aus Virginia stammt. Die puristischen, akustischen Folksongs waren ihr Ding, auch und gerade auf ihrem Album "I'll Be Your Man" aus dem Jahr 2015. Eigentlich. Denn nun ist sie wieder auf den Hof der Eltern zurückgekehrt, dreht dort fleißig Videofilme und nimmt Songs auf, die etwas anders klingen als gewohnt. Das liegt zum einen an Guy Blakeslee von der Band Entrance, der ihr bei den Arrangements zur Seite steht und zum anderen Teil auch an einem elektronischen Gerät namens Omnichord, mit welchem sie seit einiger Zeit arbeitet. Alles zusammen lässt sich bei den beiden Songs bestaunen, die ihr neues Label Sub Pop bislang veröffentlicht hat - vor einigen Wochen "Every Star Shivers In The Dark" und nun aktuell der nicht weniger schöne Track "For No One For Now". Dranbleiben Ehrensache.



Babeheaven: Über die Musik hinaus

Babeheaven
„Home For Now“

(AWAL)

Wenn es denn so gut passt, warum sollten wir das Zitat nicht noch einmal verwenden? Vor zwei Jahren hat Nancy Andersen, Sängerin und Songschreiberin des Londoner Duos Babeheaven, der Modezeitschrift VOGUE ein Interview gegeben. Dabei ging es nur am Rande um die richtige Lotion, die man zum Abschminken am Abend wählen sollte, sondern eher um Andersens Rolle in der Band und ihr Musikverständnis. „Our music sounds better in winter“, sagte sie dem Magazin und deshalb ist es eine glückliche Fügung, dass die Veröffentlichung ihres und Partner Jamie Travis‘ längstens erwarteten Debüts genau in diese Jahreszeit fällt, noch dazu in einen Winter, der mutmaßlich ein sehr schwieriger werden wird. Soll heißen: Man wird diese Musik noch brauchen in den nächsten Wochen und Monaten. Denn die anschmiegsamen Grooves, die sanften Beats und vor allem Andersens betörender Gesang sind wahre Seelenstreichler, sie umfangen einen, umhüllen mit Melancholie, Zärtlichkeit, Wärme. Gegen Vergleiche mit Massive Attack, London Grammar, den Cocteau Twins oder Morcheeba hat die Band, so liest man, nichts einzuwenden, wer wehrt sich schon gegen Komplimente ... 

Wo der Sound angenehm vertraut scheint, drücken sie dem Ganzen textlich ihren ganz eigenen, unverwechselbaren Stempel auf. Die Songs von Babeheaven sind sehr intime Bilder erlebter Gefühlswelten, es geht um Familie, Freundschaft, um Zweisamkeit, Sehnsüchte, Verletzlichkeiten. Andersen singt von den dunklen Momenten, mit denen wir konfrontiert werden, die uns entmutigen, ja zerstören („Cassette Beat“), denen wir aber unsere innerste Hoffnung und Zuversicht entgegensetzen können. Auch wenn, wie in „Craziest Things“, wir selbst es sind, die durch Ungeduld, Trotz und Unachtsamkeit die Geduld der anderen auf eine harte Probe stellen. Der Verlust spielt nach wie vor eine große Rolle – beide Musiker*innen haben früh ihre Mutter verloren, beide haben mit „Heaven“ und „It’s Not Easy“ schon früher versucht, den Schmerz darüber in ihrer Musik zu verarbeiten und auch auf „Home For Now“ tauchen Ängste und die anhaltende Suche nach Geborgenheit immer wieder auf. Politische Zeilen findet man auf dem Album dagegen so gut wie keine, dem Radiosender FM4 hat Andersen erzählt, dass ein Stück wie „Swimming Up River“, das sie im Hinblick auf die Black-Lives-Matter-Bewegung geschrieben hat, für sie unheimlich schwierig war. 

Trotzdem geht sie sehr offen mit ihrer Rolle als Künstlerin um, in einem Statement aus den Linernotes des Albums schildert sie den inneren Kampf um Standpunkt und Selbstverständnis: „Als POC und plus-size-woman habe ich mich auf der Bühne noch nie so wohl gefühlt", berichtet sie. „Während des Lockdowns habe ich viel mehr Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie ich wahrgenommen werden möchte. Früher hatte ich wirklich schlimme Angst vor einer Show - ich stürzte mich regelrecht in einen Song und schaute erst am Ende des Liedes auf, um die Reaktionen von Band und Publikum zu sehen. Es war für mich sehr wichtig, daran zu arbeiten und zu erkennen, dass ich aus einem bestimmten Grund dort oben stehe, insbesondere als farbiger Mensch. Ich weiß jetzt um die Bedeutung, dass eine Band von jemandem geführt wird, den man im Alltag normalerweise übersieht - ich muss nicht übersexualisiert zu werden, unsere Musik braucht keine RnB-Schublade, nur wegen meines Haut- oder Körpertyps.“ Sätze, die heute, da Rassismus, Misogynie und Bodyshaming noch immer an der Tagesordnung sind, nicht oft genug ausgesprochen gehören. Und die diese Platte über das bloße Hörerlebnis hinausheben.

Samstag, 21. November 2020

Waves Of Dread: Selbstbezichtigung

Als Rezensent ist man ja oft genug versucht, zu gängigen Mustern der Marke "klingt wie eine Mischung aus X und Y" zu greifen (auch hier ist das leider schon oft genug passiert), obwohl allgemein bekannt sein dürfte, dass Musiker*innen nichts mehr hassen als die ständigen Vergleiche mit angeblichen Vorbildern, der unausgesprochene Vorwurf der bloßen Abkupferei wiegt einfach zu schwer. Selten genug und deshalb herzlich willkommen, wenn die Künstler in einer Art Selbstbezichtigung den offenkundigen Bezug ohne unser Zutun ins Spiel bringen. So geschehen bei der "neuen" Single "Stars" der Waves Of Dread aus Newcastle Upon Tyne. Das Shoegazing-Trio hatte zuletzt ja seine EP "II" veröffentlicht und hernach noch den eigenständigen Song "Colour Of Eden", allesamt schön verschlungene, elegische Gitarrenpopstücke. Songschreiber Nick JH hatte allerdings zumindest zu besagtem "Stars" noch eine andere Idee und so erscheint dieser nun im sogenannten Beach Cut, einer elektrifizierten, drumlastigeren Variante, die ein bisschen an - nun, an wen erinnert? Das sagt er uns dankenswerterweise gleich selbst:

"I'm very happy to be bringing out this new version of Stars. I've had the idea to do a new take of the song since its original release and I'm over the moon with the results. Initially, I wanted the song to have a similar feel to Waves of Mutilation (UK Surf) by Pixies - the bass and drums driving throughout is certainly taken from their style of playing, but the song naturally took on a bigger, more dreamy feel during recording, not unlike the band namechecked in the song, Slowdive." 

Donnerstag, 19. November 2020

Bluthund: So gar nicht artverwandt

Bluthund
"StromGitarrenWutRap"

(OMN Label Services)

Ja was denn nun?! Grundsätzlich ist es ja so, dass Bands mit Tiernamen eine schwierige Sache sind. Denn meistens passt das Tier nicht zum Menschen (auch wenn das angeblich eine eiserne Regel sein soll), es entstehen Missverständnisse. Das gilt weniger für die harmlosen unter den Artgenossen wie Vögel, Käfer, Pferde und selbst Ziegen, sondern im Speziellen für Hunde und Hundeähnliche - wenn wir da mal auflisten, ergeben sich schon so einige Fragezeichen: Dog Eat Dog beispielsweise, Dackelblut, die Lassie Singers und eben auch die doch recht alberne, präpubertäre Chaotentruppe von der Bloodhound Gang. Der Bluthund also, da sind wir beim Thema. Unsere vierköpfige Kapelle hier, die wir vor einiger Zeit schon mal angespielt haben, hat nämlich mit der Spaßtruppe aus Amerika genauso wenig zu tun wie mit dem ihrem Wappentier. Diese Rasse mit dem vermeintlich martialischen Namen wird im Lexikon nämlich als "sanftes und anhängliches" Tier beschrieben, das "ruhig, freundlich, zurückhaltend und umgänglich" im Kontakt mit Menschen sei. Und da beißt sich - äh, der Hund in den Schwanz, denn von diesen Eigenschaften ist auf der neuen EP "StromGitarrenWutRap" so gar nichts zu hören. Das Quartett brüllt vielmehr seine Wut in vierfacher Potenz aus den Boxen, das ist laut, das ist dreckig und von Zurückhaltung oder Sanftmut fehlt jede Spur. Vielmehr geraten die fünf Stücke zur zornigen und natürlich politischen Abrechnung - mit militaristischen Saubermännern und Scheitelträgern ("Soldatinnen und Soldaten"), fehlgeleiteten, gern auch anonymen Hasspredigern jeder Coleur ("Halt die Fresse ja!!!"), schärfer als Die Ärzte gehen sie mit dem Punk selbst ins Gericht und Leute, die wegen jedem Mist gleich Amok laufen und einen auf Michael Douglas machen, kriegen auch gleich auch eine mit ("Scheisswut"). Für den aktuellen Track "Wir fackeln alles ab" haben sich Bluthund übrigens mit den Berliner Krawallos The Toten Crackhuren im Kofferraum zusammengetan, Regie von Boris Saposchnikov. Stilistisch bewegt sich der Lärm irgendwo zwischen Deichkind und Turbostaat, Metall-Rap auf hoher Drehzahl also. Irgendwann aber sollten sie mal im Tierheim vorbeischauen, eine Entschuldigung wäre dann doch fällig.



Dienstag, 17. November 2020

Bleachers aka. Jack Antonoff: Auf eine neue Stufe

Wow. Was für ein Song. Das hat man nicht oft, dass man ein Stück hört und es wächst und wächst und irgendwann weiß man, dass jetzt etwas passieren muss und - das tut es dann auch. Jack Antonoff hat in seinem noch jungen Leben schon ziemlich viele wegweisende Platten produziert, Künstlerinnen wie die Dixie Chicks, St. Vincent, FKA Twigs, Lorde, Taylor Swift und Lana Del Rey wurden mit seiner Hilfe noch besser als sie ohnehin waren und sind. Dass er auch mit seinem Soloprojekt Bleachers feine Platten (bislang zwei) abgeliefert hat, gerät dabei leicht in Vergessenheit. Nun, Antonoff hat heute daran erinnern können und zwar auf wirklich wunderbare Weise. Weil er nämlich mit "Chinatown" ein Stück veröffentlichte, das schon in der ersten Hälfte so zu Herzen geht, wie es (siehe oben) nur wenige schaffen. Und dann - kommt auf einmal Bruce Springsteen daher und übernimmt einfach den Chorus und man weiß plötzlich, dass genau das den Song auf eine neue Stufe hebt und dass nur Springsteen selbst (wegen New Jersey und all dem anderen Kram) das schaffen konnte. Antonoff hat für "Chinatown" und die dazugehörige Flipside "45", die mutmaßlich von seinem neuen, dritten Album stammen sollen, ein längeres Statement geschrieben, das wir hier gern ungekürzt notieren wollen:

“‘Chinatown’ starts in NYC and travels to New Jersey. That pull back to the place I am from mixed with terror of falling in love again. Having to show your cards to someone and the shock when you see them for yourself. Thinking you know yourself and where you are from…. having to see yourself through somebody who you want to stay… I started to write this song with these ideas ringing in my head. To further understand who you are pushes you to further understand where you are from and what that looks and sounds like. There are pieces in that that are worth carrying forever and pieces worth letting die. ‘Chinatown’ and ‘45’ are both the story of this—‘Chinatown’ through someone else, ‘45’ through the mirror. As for Bruce, it’s the honor of a lifetime to be joined by him. He is the artist who showed me that the sound of the place I am from has value and that there is a spirit here that needs to be taken all over the world.”



Montag, 16. November 2020

Haiku Hands: Simpler Plot, Klasse Pop

Okay, die Story des neuen Films von Christopher Landon ist nicht allzu kompliziert und auch nach drei bis fünf Gläsern Erdbeerbowle noch problemlos zu kapieren: In "FREAKY" tauschen ein ziemlich unbekanntes Highschool-Mädchen und ein ziemlich brutaler Serienkiller aufgrund wunderlicher Umstände ihren Körper und hernach - naja, ihr wißt schon, heilloses Durcheinander, Splatterblut, Gekreische und noch mal ziemlich viel Splatterblut. Und jede Menge Spaß. Dass die australische Dancepop-Band Haiku Hands, die gerade erst ihr selbstbetiteltes Album veröffentlicht hat, den Song "Suck My Cherry" zum Soundtrack beisteuerte, dürfte dem Erfolg der Komödie zuträglich sein, in Deutschland kommt der Film am 23. Dezember ins - naja, irgendwohin halt.



Sonntag, 15. November 2020

Kala Brisella: Schöpferische Hysterie

Für die neue Folge unserer in letzter Zeit etwas vernachlässigten Sunday Spotlights müssen wir heute wieder mal nicht so weit fahren, alles kommt irgendwie aus der Nähe, quasi von um die Ecke, na wenigstens aus dem deutschsprachigen Raum. Den Anfang machen Kala Brisella aus Berlin. Über das neue Album des Trios "Lost In Labour", das gerade bei Tapete Records erschienen ist, hatten wir ja schon berichtet, als die erste Single "Working Star" erschienen ist, Anfang Oktober schickten Anja Müller, Dennis Peter und Jochen Haker noch "Dark Star" hinterher und weil auch dieser Track wieder reichlich mit dem versehen ist, was das Label als Mischung aus "Wucht und Wahnsinn" anpries, fällt es uns wiederum nicht sonderlich schwer, zum Kauf der ganzen Platte zu raten. Denn was könnten diese Zeiten wohl nötiger gebrauchen als junge Menschen, die der Krise mit schöpferischer Hysterie begegnen.




BETTEROV: Das Leben in Liedern

Jetzt aber doch mal zu einem waschechten Neuzugang, zumindest was diesen Blog anbelangt. Denn Manuel Bittorf alias BETTEROV macht ja nicht erst seit heute Musik, sondern ist als Liedermacher schon geraume Zeit unterwegs. Geboren Mitte der Neunziger im thüringischen Bad Salzungen, hat er zunächst erste Bühnenerfahrung beim Freien Theater Eisenach gesammelt, nebenbei aber auch schon Unterricht für Klavier, Geige, Gitarre und Gesang genommen, Dinge, die ihm später bei seinem Soloprojekt hörbar zugute kommen. Seit 2015 schreibt Bittorf Songs, er zieht nach Berlin, spielt dort in Clubs und Kneipen und nimmt zusammen mit dem Produzenten Tim Tautorat (Provinz, Faber, AnnenMayKantereit) eine Reihe melancholischer Rocksongs auf, von denen "Platz am Fenster" der aktuellste ist. Immer wieder spiegeln sich in den Liedern die Brüche von Kindheit und Jugend, klingen traurige Erinnerungen und zarte Hoffnung nach. Die ungeschönte Poesie nimmt den Zuhörer schnell in ihren Bann, gut möglich, dass sich hier eine veritable Überraschung für das kommende Jahr ankündigt. Was gerade zu der Zeit, da wir wieder viel von Gerd Gundermann aus Weimar lesen und hören, nicht die schlechteste Nachricht ist.







Mira Mann: Komm einfach

Ihr erstes Buch war noch rot und hieß "Gedichte der Angst". Mira Mann, Sängerin und Bassistin der Münchner Band Candelilla, verarbeitete dort die Wochen, als sie von ihrer Krankheit erfuhr - ein dünnes Bändchen voller starker Worte und chaotischer Gedanken, ein Auf und Ab widerstrebender Gefühle, Schockstarre, Aufstehen, Funktionieren, weiter leben wollen. Es folgte die EP "Ich mag das". Im vergangenen Jahr dann, wieder bei der Kölner Parasitenpresse, die Fortsetzung, jetzt in sonnengelb. "Komm einfach" schließt an das Debüt an, erzählt von der Bewältigung des Alltags und der Bereitschaft, den eigenen Körper neu anzunehmen, zu spüren und die Zeit als wertvolles Geschenk zu verstehen. Zusammen mit Produzent und Musiker Martin Brugger hat Mann nun einen Text daraus zu dem gleichnamigen Song "Komm einfach" vertont, zum Stück, das erneut bei Problembär Records erscheint, gibt es auch ein Video, gedreht von Thomas Gothier und Anna Lena Keller. 

"Komm einfach. Ausatmen ausatmen ausatmen, warten, dass alles stillsteht. Sonne, sanfte frische Sonne. Komm einfach, keine Grenze, keine Gefahr. Komm einfach zu mir und dann bleib Haut an Haut. Wir fangen an zu entspannen. Wir spüren die Kraft, den Platz, den Spielraum. Hey Baby das ist der Sommer an der Küste mit der Luft und dem Wind und den leichten Tagen. Kleine Wasserkörner liegen in der Luft, kühl. Wir sitzen rum und schauen und warten zwanzig Minuten. Der leichte Muskelkater im Nacken. Ich leg den Kopf schief, ich dehne. Ich spüre den hellen schönen Schmerz. Mein Körper ganz da, unerforscht, wechselhaft. Mein Körper dein Körper verändert sich ständig. Und du streichst über meine weichen Stellen und Spucke und Zähne. Und Sonne Sonne Sonne. Sanfte frische Sonne. Wasser. Luft. Komm einfach, keine Grenze, keine Gefahr. Komm einfach zu mir und dann bleib Haut an Haut."




Samstag, 14. November 2020

Kruder und Dorfmeister: Frische Erinnerung

Kruder und Dorfmeister
„1995“

(G Stone Recordings)

Das ist also das Album, das uns zu Nostalgikern macht. Weil es trotz aller Beteuerungen eben weniger eines für Menschen ist, die 1995 geboren sind, sondern eher für jene, die in dieser Zeit in den Bars und Clubs die Nacht feierten. Und einem/einer jeden fallen jetzt unzählige Orte und Begebenheiten ein, die mit der Musik von Peter Kruder und Richard Dorfmeister zu tun haben, die davon erzählen, wie man damals diesen unglaublich coolen und smoothen Sound nicht nur erlebt, sondern regelrecht aufgesogen hat. Ob hierzulande auf dem Dancefloor des Hamburger MOJO-Clubs oder bei Michael Reinboths Into Somethin‘ in der Münchner Muffathalle, das Duo war für ein paar Jahre sprichwörtlich tonangebend – dass die Platten der beiden dann den Weg von der Nacht in den Tag fanden und fortan auch immer öfter in Coffeeshops dem schwatzhaften Gastrovolk zur Ablenkung und Unterhaltung dienten, dafür kann man den zwei Wienern kaum einen Vorwurf machen. Die Qualität ihrer Arbeit schmälerte das ohnehin nicht, die nutzte sich nur leider etwas schneller ab. Es hätte Nachschub gebraucht, doch wie sie gerade in Interviews erzählen, war der Hype so überwältigend und allumfassend, dass für mehr keine Zeit blieb – und so kam es, dass einiges an Material ungehört auf Bändern in Kisten verschwand, das nun, über zwanzig Jahre später erst mit großem Aufwand aufpoliert und wieder zugänglich gemacht wurde. Eben „1995“. 

Wer sich schon damals nicht darauf beschränkte, das Werk des Duos nur als entspannte Klangkulisse wahrzunehmen, sondern das Vergnügen schätzte, den Klangkosmos aus Dub, Downtempo, Jazz, Trip-Hop und Drum And Bass näher zu ergründen, wird auch an den wiederentdeckten Tracks viel Freude haben. Denn die Einflüsse von Morricone, Mancini, Barry, Brubeck, Davis und vielen mehr sind wieder überdeutlich zu hören und kommen, garniert mit den eleganten Beats und äußerst präzisen Arrangements, so frisch daher, als hätte sich dazwischen nichts Wesentliches getan, als könnte die Zeit all dem nichts anhaben. Die Singles „Johnson“, „Swallowed The Moon“ und vor allem „Kingsize“ wurden mit Bedacht gewählt, weil sie exemplarisch das feine Gespür von Kruder und Dorfmeister für klug abgemischtes Hitfutter unterstreichen, die besagten Referenzen finden sich dann aber vor allem in den restlichen Stücken, die zudem mit einer Vielzahl kluger Effekte glänzen können. Ganz besonders gelungen ist das gut dreizehnminütige „One Break“, bei dem sich aus einer maximal relaxten Trancenummer allmählich knackige Breakbeats schälen. Nicht ganz ohne eine gewisse Ironie übrigens kommt das Album gerade jetzt in die Läden – das Erlebnis ausgelassener Tänze bis in die frühen Morgenstunden ist aus Gründen derzeit legal nicht zu haben, die Sehnsucht danach dürfte dem Erfolg einer Platte wie „1995“ noch einen zusätzlichen Schub geben.

Donnerstag, 12. November 2020

Billie Eilish: Allein unterwegs

Was passiert ist, wenn der eigene Nachwuchs in einer Mischung aus Hysterie und Euphorie durch die Wohnung kreischt? Nun, der naheliegendste Grund lautet: Billie Eilish hat einen neuen Song draußen. Das Mädchen also, das - Achtung: Opawitz! - ein Telefonbuch einsingen und damit dennoch die Charts toppen würde, schickt also ihrem einigermaßen okayen, aber doch recht vorhersehbaren Bondsong wieder eine Eigenkomposition hinterher. Und diese wiederum folgt den Singles "Everything I Wanted" und "My Future". "Therefore I Am" muss sich dabei nicht verstecken, ist sogar vergleichsweise locker geraten und nachdem die Künstlerin kürzlich viel Technik in ihren ersten Corona-Lockdown-Livestream-Gig investiert hatte, ist das Video zum aktuellen Track wohl vergleichsweise preiswert gewesen - sie brauchte dazu nicht mehr als ein Kamera und eine leere Shoppingmall (ebenso wie Jimmy Fallon). 








Dienstag, 10. November 2020

The Clockworks: Neues Zuhause

Man hatte ja in den letzten Tagen ein wenig den Eindruck, die Welt müsse nach dem anstrengenden CNN-Wochenende mal etwas durchatmen, es ist ja schließlich einiges passiert. Im englischen Inselreich hat sich außer einem sehnsuchtsvollen Blick auf den großen Bruder überm Wasser nicht so viel getan, der alte Trott, der alte Ärger. Kein Wunder, dass der Hashtag #BorisNext die Runde machte. Die Iren allerdings in ihrem gottgegebenen Optimismus legen jetzt wieder los - The Clockworks aus Galway können mit einer sehr schönen, neuen Single aufwarten, sie feiern mit "Enough Is Never Enough" nicht weniger als die Unterschrift beim legendären Label Creation 23 von Alan McGee. Dort sind immerhin epochale Werke von Oasis, My Bloody Valentine und Primal Scream erschienen. Für uns ist das nebenbei eine willkommene Gelegenheit, noch einmal auf ihre ebenso formidablen Songs "Can I Speak To The Manager?", "The Future Is Not What It Was", "Bills And Pills" und "Stranded in Stansted" zu verweisen - lohnt sich.

Freitag, 6. November 2020

All diese Gewalt: Im Zweifel für den Zweifler

All diese Gewalt
„Andere“

(Glitterhouse)

Vor zehn Jahren sang einmal ein kluger Kopf diese Zeilen: „Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn, im Zweifel fürs Zerreißen der eigenen Uniform. Im Zweifel für Verzärtelung und für meinen Knacks, für die äußerste Zerbrechlichkeit, für einen Willen wie aus Wachs. Im Zweifel für die Zwitterwesen aus weit entfernten Sphären, im Zweifel fürs Erzittern beim Anblick der Chimären.“ Es ist nicht anzunehmen, dass Dirk von Lowtzow, Sänger und Texter der Hamburger Kapelle Tocotronic, schon damals wusste, was Max Rieger im Jahr 2020 umtreiben würde. Er wollte wohl einfach eine Lanze brechen für die scheinbar Schwachen, Unentschiedenen, Zögerlichen. Und er brach sie unbewusst eben auch für den Mann, der sich hinter dem Pseudonym All diese Gewalt verbirgt, der sonst mit seiner Band Die Nerven deutlich härtere Töne anschlägt. Und der ganze vier Jahre an diesem, seinem zweiten Soloalbum arbeitete, mit ihm haderte, kämpfte und selbst zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht gänzlich davon überzeugt war. Rieger hat dieses zähe Ringen mit sich selbst öffentlich gemacht und für einiges Erstaunen gesorgt, schlussendlich übergab er das Werk, wie er dem Radiosender detektor.fm sagte, aber dann doch dem Produzenten, wohl wissend, dass seine Arbeit getan war und diese so schlecht nicht sein konnte.

Tiefstapelei kann man das angesichts des nun hörbaren Ergebnisses nennen. Wo von Lowtzow dem Zweifel einen Song widmet, orchestriert ihm Rieger eine Hymne. „Andere“ ist, zusammen mit dem Film von Nicolas Ohnesorge und David Spaeth, eine dramatische, auch romantische Würdigung unserer eigenen Unvollkommenheit und Befangenheit geworden: Endloser Wald, dunkle Fluchten, dann gleißendes Licht, dazu das fahle, ernste Gesicht von Luzia Oppermann und die eingespielten Stimmfetzen aus dem Automaten, deren künstlichen Klang Rieger „suizidal“ nennt. Das alles ist im besten Sinne großes Kino, starke Bilder treffen wuchtige, fast mystische Klänge, ein wahrhaft faszinierendes Schauspiel. Bis man dort ankommt, hält Rieger für die Zuhörer*innen ähnlich Wundersames und viel Abwechslung bereit. „Erfolgreiche Life“ beispielsweise, die aktuelle Auskopplung, kommt als synthetischer Wavepop daher, das Video spielt mit verstörenden Bezügen zu den Folterszenen aus Guantanamo und der geheimnisvollen Düsternis von Kubricks „Eyes Wide Shut“.



„Etwas passiert“ (und später „Blind“) wiederum reicht ein vergleichsweise sparsamer Pianopart, um die Unentschlossenheit und Ohnmacht des Erzählers zu illustrieren – „Alle die ich kenne, sind längst nicht mehr hier“, singt er und sieht sich dennoch außer Stande, für sich selbst etwas daran zu ändern. Rieger hat in besagtem Interview versucht, das eingangs erwähnte Zitat von der Unzufriedenheit aufzulösen, er sei ohne das sonst gewohnte Korrektiv seiner Mitmusiker teilweise verloren gewesen mit all den Möglichkeiten und Wendungen, die solch eine Soloproduktion mit sich brächten. Für uns stellt sich, bei seinem Genie wohlgemerkt, dieses Suchen und Wechseln zwischen den Stilen als Segen heraus. Ob klackernder Synthpop (á la Depeche Mode zu Violator-Zeiten) bei „Gift“, der Waverock von „Grenzen“, die zarten Hooks mit künstlich gebrochener Stimme in „Dein“ oder das verhallt-verschwommene „Echokammer“, es bleibt ein spannender Kosmos, in den er uns mitnimmt. Die Ungewissheit, mit der sich Rieger während der Arbeit an „Andere“ konfrontiert sah und die dieses Album als roter Faden durchzieht, ist letztendlich auch Teil unseres eigenen Ichs. Und vielleicht ein oder auch der Grund, warum dieses Ablum so berühren kann.

Liines: Gar nicht so schwer

Den Aufschlag zu den empfehlenswertesten Tracks des bevorstehenden Wochenendes machen heute drei Damen aus Manchester - beileibe keine unbekannten: Wer die Liines, also Zoe McVeigh (Gitarre, Gesang), Leila O'Sullivan (Drums) und Anna Donigan (Bass) schon live erlebt hat, die/der weiß, mit wieviel Energie das Trio von der Bühne kommt, eine Energie, die die Band im Übrigen eins zu eins auf ihrem Debütalbum "Stop/Start" von 2018 umzusetzen vermochte. Nachdem Tamsin Middleton die Band kürzlich verlassen hat, wurde in Donigan (wie man unschwer hören kann) glücklicherweise gleichwertiger Ersatz gefunden und so können die drei mit neuer Power das Rennen fortsetzen. Erstes Ergebnis: Zur letztjährigen Veröffentlichung der Single-Flipside "On And On" geht heute "Sorry" an den Start und auch wenn olle Elton vor langer Zeit meinte, dieses Wort sei eines der am schwersten aussprechbaren, so beweisen sie hier locker das Gegenteil. Ein Smasher also, gehört in jede Playlist.

Donnerstag, 5. November 2020

Clipping: Land of Hate and Fury

Clipping
"Visions Of Bodies Being Burned"

(Sub Pop)

Gemacht für Tage wie diese: Es gibt wohl kaum einen besseren Moment, um über Clipping und ihr aktuelles Album zu sprechen. Da schickt sich eine der ältesten Demokratien dieses Planeten an, im Chaos zu versinken, weil ein durchgeknallter Egomane meint, mal eben alle über die Jahrhunderte gewachsenen und bislang verbindlichen Regeln außer Kraft setzen zu dürfen. Und die Hälfte der Bewohner dieses einst so stolzen Landes hat ihn genau dafür ins Amt gehoben und schaut ihm nun begeistert dabei zu, wie er ihrer aller Untergang herbeiregiert. Aus Hope and Glory ist längst Hate and Fury geworden - es ist der Horror. Und wenn man zu diesem Szenario noch einen Soundtrack braucht, dann ist dies unbedingt „Visions Of Bodies Being Burned“. Im Zweifelfall, wenn also nicht zur Hand, würde es natürlich auch der Vorgänger „There Existed An Addiction Of Blood“ tun, denn schon 2019 haben Daveed Diggs, William Hutson und Jonathan Snipes mit ihrer dritten Studioplatte Bahnbrechendes in Sachen Noise Rap abgeliefert. 

Nun gibt es in diesem Jahr beispielsweise mit Run The Jewels oder auch Algiers schon brilliante Beispiele politischer Wortmeldung, allerdings erscheinen diese im Vergleich nicht ganz so verstörend, wie sich die Realität gerade darstellt. Clipping dagegen haben genügend Albtraumhaftes im Programm, um hier bestehen zu können: Es knistert, raschelt, pfeift und kreischt, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen, zu dröhnenden, furchterregenden Klangkulissen mischen sich wuchtige, metallische Beats („Pain Everyday“), dissonantes Durcheinander („“Eaten Alive“), übersteuertes Feuerprasseln, Schafherdengeblöke und natürlich haufenweise böse Reime in teilweise atemberaubendem Tempo.

Dass sich Clipping neben dem Hip-Hop-Duo Cam And China auch Tonkünstler wie Greg Stuart oder die Jazzer Jeff Parker und Ted Byrnes ins Studio geholt hat, spricht für ihre ungebremste Experimentierfreude, die Kollaboration mit theOGM und Eaddy von der Hardcore-Truppe Ho99o9 aus Los Angeles ist dagegen fast zwangsläufig, verfolgen die beiden doch einen ähnlich kontroversen Ansatz. Unbedingt erwähnen müssen wir noch das Video zu „Enlacing/Pain Everyday“: Wie auch schon für „All In Your Head“ (2019) übernahm hier die Filmemacherin Sarah C Prinz Regie und Choreographie und hat hier (auch dank der sagenhaften Performance von Matthew Gibbs) abermals ein beeindruckend düsteres, elektrisierendes Kunstwerk geschaffen. Wären die Umstände nicht so bedrückend, es bestände Grund zu ausgelassenem Jubel – so gruseln wir uns im Stillen und hoffen inständig, dass es nicht noch schlimmer kommt.

Danube: Nicht nur laut und grell

Weil unsere Zeiten so sind wie sie sind, gilt ja oftmals das Laute, Grelle, Extreme als das neue, trendige Ding der Stunde, alles andere darf sich gern hinten anstellen oder wird erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Auf unsere Hauptstadt trifft diese Einschätzung, wen wundert es, im Besonderen zu. Die Berlin Music Comission tickt da vielleicht etwas anders, 2007 als genossenschaftliches Netzwerk der sog. Musikwirtschaft gegründet, hat sie sich die Vertretung kleiner und mittelständischer Unternehmen der Branche zur Aufgabe gemacht und fördert hier bewußt Künstler*innen, die nicht über die Lobby der Mediengiganten und Majorlabels verfügen. Auf einem aktuellen Sampler ("Berlin Music Comission - Unexpected Sounds") versammeln sie gerade sechszehn Bands und Musiker*innen, die gern auch mal andere Töne anschlagen als die oben genannten, mit dabei sind unter anderem We Will Kaleid, Tom Baldauf, dfumh, uon oder das Technoprojekt Flirren. Und auch Stella Lindner, bekannter unter ihrem Pseudonym Danube, hat ein Lied zur Compilation beigesteuert - "Eggshells" kommt als feinfühlige Liebeskummer-Ballade daher, produziert haben wie gewohnt Tobias Siebert und Simon Frontzek und auch die beiden Slut-Buddies René Arbeithuber (früher mit Lindner als Gender Bombs unterwegs) und Rainer Schaller waren mit von der Partie. Wem's gefällt, der/die darf gern auch noch die beiden letzten Singles der Wahlberlinerin "Touch Mahal" und "Sense Is Where You Find It" vor Ort anhören.

Dienstag, 3. November 2020

Haiyti: Weiter austeilen

Ob sie zu schnell ist? Nun, vielleicht sind ja wir auch einfach zu langsam? Dass jedenfalls Haiyti nach "Sui Sui" schon wieder eine neue Platte raushaut, ist zwar überraschend, andererseits aber auch gut. Weil die letzte nicht schlecht war. Düster, hart, angriffslustig sollen die aktuellen Tracks sein, sagt zumindest das Label, es geht nicht mehr um "100.000 Fans", sondern die gleiche Anzahl Feinde und weil der Titel "Influencer" (VÖ 4. Dezember) heißt, darf man annehmen, dass es einmal mehr jede Menge derber Sprüche an verschiedene Adressen geben wird. Ein paar von den Reimen sind ja auch schon draußen - in der Reihenfolge "Tak Tak", "100.000 Feinde", "Sweet" und das brandneue "Comeback".










Sonntag, 1. November 2020

Esya: Trick and Trance

Über Sinn und Unsinn des Halloween-Aktionismus (erst recht hierzulande) lässt sich trefflich streiten, uneingeschränkt positiv stehen wir der Sache gegenüber, wenn es sich um Veranstaltungen wie diese hier dreht - und zwar aus mehrerlei Gründen: Wie unzählige Künstler*innen neben ihr leidet auch Songwriterin und Bassistin Ayse Hassan unter den pandemiebedingten Beschränkungen - keine Savages, kein Kite Base, ja selbst als Solomusikerin sind ihre Entfaltungsmöglichkeiten derzeit arg eingeschränkt. Um so willkommener deshalb ein Online-Auftritt aus der vergangenen Nacht. Unter dem Titel "All Hallows' Eve" präsentierte Hassan unter ihrem Moniker Esya eine multimediale Performance zu Stücken ihrer drei bislang erschienenen EP "Absurdity Of Being" und "Absurdity Of ATCG (I)" bzw. "Absurdity Of ATCG (II) Emergent Form". Einzig von einem Keyboard begleitet, kombinierte sie über knapp vierzig Minuten vollflächige Filmcollagen mit technoiden, düsteren Soundgebilden - meistenteils angetrieben von kraftvollen Beats, stellte sich so beim Zuhören und -sehen nach kurzer Zeit eine Art Trancezustand ein. Ein Zustand übrigens, den man sich sehnlichst wieder live wünscht, für's erste muß hier die "Repeat"-Taste herhalten.