PJ Harvey
„The Hope Six Demolition Project“
(Island)
Es ist schon einigermaßen erstaunlich, dass eine Frau wie Polly Jean Harvey, eine Künstlerin also, die ihren Hörern auch schon vor diesem Album keine gefällige, leicht zu konsumierende Formatmusik angeboten hatte, die zuvor gern provozierte, erschreckte, zumutete und gerade mit dem Vorgänger „Let England Shake“ die Mißstände im eigenen Heimatland für ihre Verhältnisse recht schonungslos aufgegriffen hat – daß also diese Frau sich jetzt dem Vorwurf des Elendtourismus ausgesetzt sieht. Und das nur, weil sie öffentlich kein notariell beglaubigtes Quittungsbuch für ihre Fahrten in den Kosovo, nach Afghanistan und durch die Elendsviertel von Washington nachzureichen bereit ist. Weil sie überhaupt das bleibt, was sie zuvor schon war: distanziert, kühl, vorsichtig. Dabei ist „The Hope Six Demolition Project“ ihr politischstes Statement überhaupt, spricht sie sehr offen über die gesellschaftlichen Gefahren, Verwerfungen, über ihre Befindlichkeit und auch ihr Befremden angesichts des massenhaften Unglücks, das sie auf ihren Reisen mit dem Freund, Fotografen und Filmemacher Seamus Murphy gesehen und dokumentiert hat.
Und wenn sie sich vielleicht nicht unmittelbar unter die hungernden, kranken und von der Zivilgesellschaft im Stich gelassenen Menschen begeben hat, dann teilt sie doch ihre Ängste und Bedenken mit den unsrigen, mit dem Unterschied, dass sie wenigstens laut von diesen Unzulänglichkeiten, den eigenen wie denen vor Ort, berichtet, also singt. Und sie tut das mit gewohnter Verve, mit Wut, mit Leidenschaft und immer öfter in Form dramatischer Inszenierungen. Die Aufnahmesession im Museum hinter verspiegelten Scheiben war nur eine von vielen, das Instrumentarium ist in gleichem Maße umfangreicher wie die Stücke komplexer geworden und an herkömmliche, klassische Songsstrukturen erinnern hier nur wenige. Harvey verschneidet auf der Platte mit Vorliebe Rocktradition mit Soul und Gospel, von sagenhaften, düsteren Gestalten ist die Rede („Chain Of Keys“), wenn im Hintergrund die Chöre düster klagen.
Die Gitarren sind zwar wieder ins Aufnahmestudio zurückgekehrt, müssen sich den Platz aber mit ebenso wilden Saxophonparts teilen, dazu schrillt, schmeichelt und raunt die Mittvierzigerin in bekannter Vielstimmigkeit. Vielleicht sind „The Wheel“ und der Opener „Community Of Hope“ die beiden einzigen Lieder, die konventioneller daherkommen, der große Rest ist flirrendes, wildes Aktionstheater, mehr Performance als Auftritt, mal böse, schroff und anklagend wie „Ministry Of Defence“, mal als grelle Protestnote bei „Near The Memorial Of Vietnam And Lincoln“. Den Ausstieg aus der Schublade des Female Alternative Rockstar wird mancher Fan nicht leicht verschmerzen, betrachtet man ihre wechselvolle Karriere, dann ist er nur folgerichtig und macht den Fortgang der Entwicklung um so spannender. Ihr aber Opportunismus oder unzureichende Identifikation mit den besungenen Themen vorzuwerfen, ist – vor dem Hintergrund absoluter künstlerischer Freiheit – nicht weniger als lächerlich.
20.06. Berlin, Zitadelle Spandau
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