Dr. Dre
„Compton“
(Interscope)
Wer den wiederaufflammenden Rassenunruhen in den USA überhaupt etwas Positives abgewinnen möchte (Vorsicht: Minenfeld!), der darf zumindest konstatieren, dass der einst darniederliegende, sich in ödem Bling-Bling-Machismo erschöpfende Hip Hop an diesen Konflikten Sinne und Konturen geschärft hat. Man spürt wieder so etwas wie Relevanz, Wachheit, auch Wut und Aggressivität natürlich – jeder, der geglaubt hatte, mit einem schwarzen Präsidenten würden sich solche üblen Dinge nicht mehr wiederholen, sondern irgendwann, ganz Besonnenheit, Ratio und Vernunft, von selbst verschwinden, sieht sich nun getäuscht. Und selbst leicht abgehalfterte Stars wie 50 Cent oder Xzibit, die sich vor Jahren noch als Tanzbären bereitwillig am Nasenring (also: Klischee) durch die mediale Arena ziehen ließen, merken plötzlich, dass sie vielleicht etwas zu bequem, etwas zu satt geworden sind und nun doch die Hand beißen müssen, die ihnen über lange Zeit ihren Luxus mitfinanziert hat. Nicht so schön, aber das war Aufklärung ja nie.
Und wer gedacht hat, nach Kendrick Lamar, A$AP Rocky, Drake, D’Angelo und Earl Sweatshirt hätte der Vorrat an Superlativen für dieses bewegte Jahr bereits aufgebraucht sein müssen, der sieht sich getäuscht und darf für Altmeister und Produzenten-Legende Dr. Dre noch einmal draufsatteln. Denn „Compton“, eigentlich als Soundtrack konzipiert, ist ein so schillerndes, vielschichtiges und natürlich auch bissiges Werk geworden, das den Vergleich mit ähnlich apokalyptischen Geniestreichen wie Kanye Wests „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ oder eben Lamar’s „To Pimp A Butterfly“ nicht scheuen muss. Man kommt nicht umhin, sich im Zuge der Veröffentlichung die alten Sachen von NWA oder Dre’s Solowerk „The Chronic“ anzuhören und muss anerkennen, dass bei allem Respekt vor den alten Sachen ein Quantensprung zur Neuzeit herauszuhören ist. Das betrifft natürlich nicht so sehr die drastische, kompromisslose Wortwahl und auch die nicht unbedingt die Düsternis, sondern die kunstvolle Vermengung verschiedenster Stile.
Davon gibt es auf „Compton“ eine Menge und Dre schafft es auf beeindruckende Weise, sie zu einem überaus lebendigen, regelrecht pulsierenden Ganzen zu formen, kantig, nervös, überdreht und voller Überraschungen. Wo auf ganz frühen Alben die dumpf pochende Straightness Attitüde und Klangbild bestimmte und furchteinflößendes Wummern Ehrensache war, überzeugt die heutige Rapgeneration mit einer inspirierten Mixtur aus Psychrock, Knochenblues, Dub, Metall-Riffs, werden sanfte Pianoklimpereien und opulente Chöre mit dronigen Synths gekreuzt. Hier steht deshalb fetter Soul („It’s All On Me“) neben trickreich geloopten Soundpatterns („Genocide“), trifft Doom („Deep Water“) auf die ganz breite Filmscore-Palette („One Shot One Kill“).
Überhaupt – die Gäste: Snoop Dog macht es nicht unter dem best track of all und selbst Dre-Zögling Eminem steht ihm mit seinen scharf geschliffenen Stakkato-Rhymes in nichts nach. Dazu noch Lamar selbst, Marsha Ambrosius, Anderson Paak, King Mez und viele mehr, Schüler, Wegbegleiter, Kollegen, Buddies, ein vielstimmiger Chor der Enttäuschung, der Anklage und des Zorns an und auf die Unbelehrbarkeit der Exekutive und Justiz. So wie die dazugehörige Doku „Straight Outta Compton“ gerade in den Kinos, so schließt auch dieses Album von Dr. Dre einen historischen Kreis, weckt Erinnerungen, zieht Schlüsse, schafft Bezüge und macht auch Mut für die, die ihn gerade ganz gut brauchen können. In der Überfülle, dem „Was geht!?“ im Subtext von „Compton“ schwingt also – wer will es ihm verdenken – auch eine kräftige Portion Stolz mit. https://www.drdre.com/
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen