Freitag, 26. Januar 2018

Tocotronic: Lebenserhaltende Maßnahme

Tocotronic
„Die Unendlichkeit“
(Vertigo/Universal)

Man darf das ruhig als Privileg betrachten, in dem Alter gibt’s ja nicht mehr viele davon. Daß also eine Band eine so große Spanne des eigenen Lebens lückenlos bespielt, da ist, wenn man sie braucht, am Soundtrack der Biografie mitschreibt, ohne das Leben eines jeden Hörers auch nur ansatzweise in seinen Verästelungen, Wendungen, Brüchen kennen zu müssen. Sie singen vom eigenen – das allein reicht. Und sie tun dies auf der aktuellen Platte mehr denn je und, das ist neu, in programmatischer Form und Folge. Tocotronic haben in den nunmehr fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens schon immer verschiedene Wachstumsphasen thematisiert, waren mal mehr, mal weniger direkt, hier laut und trotzig, dort geheimnisvoll, sphärisch, dunkel sowieso. Nun begleiten sie ihren Protagonisten, nennen wir ihn der Einfachheit mal Dirk, über zwölf Kapitel durch dieses undurchschaubare, kaum planbare, manchmal schmerzhafte, manchmal komische Thing called Leben.



Alles, was diese Zeit mit ihm und uns gemacht hat, was sie geschenkt, was sie genommen hat, welche Rätsel sie aufgab, wann sie einen unsterblich machte und wann sie uns ob unserer Unvollkommenheit und Schwäche frech ins Gesicht lachte, all das ist dabei – zwölf Lieder eben. Die Rebellion, die Lüge, die Träume, das Unverstandensein, die Erkenntnis (die schmerzliche wie die tröstende), Gefühlstau, Enttäuschung, Sehnsucht, und mehr. Das klingt oft wunderbar, manchmal recht wunderlich. „Electric Guitar“ zum Beispiel ist so brillant auf den Punkt, die weiche Stimme, der warme Sound, der Blick zurück auf eine Zeit voller Peinlichkeit, Unentschlossenheit und großen Entdeckungen, die Gitarre als lebensrettende, ja -erhaltende Maßnahme. Dort, wo man von lauter Unverstand umgeben war, konnte sie einem als einzige ein kleines Stück Würde bewahren. Ebenso „Hey Du“, Spießerbeton, rauer Jargon (geborgt), die „Schwarzwaldhölle“ drängt zum Aufbruch – wohin? Egal, einfach raus!



Wenn Tocotronic mal ein paar Metaebenen eindampfen, dann kommt das manchmal erfreulich klar an. An anderer Stelle eher bemüht – „1993“ klingt ziemlich weird, verrückt, über’s Knie gebrochen. Ein jeder hat ja bei dieser Band den Stil, den er am liebsten mag, seine Epoche, seine Phase. Das Schattige, Unscharfe, Unwägbare hat bei ihnen schon immer einen großen Raum eingenommen, es galt nicht zu Unrecht den Sieg der puren Vernunft zu verhindern, den Zweifel zu loben, das Unsagbare irgendwie in Worte zu fassen. Auch diese Platte hat, gerade im letzten Drittel, solcherlei leidenschaftliche, halt- und hilflose, auch bedrohliche Momente, wenn die Rettung von unerwarteter Seite kommt, das weiße Licht den Neuanfang, den Morgen ankündigt und man trotzdem nicht weiß, was wohl wird.. Da rücken sie ganz nah an einen heran – Zusammenhalt. Ein Ende in Ernüchterung und Klarheit, alles zu wollen und (nur?) den Nächstbesten zu bekommen. Reicht das? Und: Was sagt Google dazu? „Bitte, verlasst mich nicht!“ singt der Dirk. Wie könnten wir. https://tocotronic.de/

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