Freitag, 27. Dezember 2019

Oberpollinger 2019: Die Konzerte des Jahres

Nicht immer ist es so einfach wie in diesem Jahr. Denn über den ersten Platz müssen wir nicht diskutieren. Sind die Sleaford Mods unterwegs, sind sie die besten - wer jemals eine Live-Performance von Jason Williamson und Andrew Fearn (noch dazu in deren Heimatland) gesehen hat, wird das zweifellos bestätigen (anderenfalls: GFY!). Für die Plätze zwei bis zehn gilt: Es ist wie mit einem guten Wein - nicht nur der Inhalt der Flasche ist entscheidend, sondern eben auch eine ganze Reihe anderer Faktoren. Der teuerste/beste Tropfen kann mit den falschen Freunden, in deplatzierter Umgebung oder im Pappbecher einfach wie schale Plörre schmecken, ein Le Filou Rouge wiederum, die Flasche für zwo fuffzich, bedeutet dagegen manchmal, im perfekten Moment, die Erfüllung (naja, fast und selten).

Für Konzerte heißt das eben nicht nur wer, sondern ebenso wo, wann, mit wem und wie lange. Wichtig ist eben nicht nur neben, sondern hinter wem ich stehe, und wenn man da einen Endlosquatscher, Zweimetermann oder Dauerfilmer (im schlimmsten Falle alles zusammen) erwischt hat, ist der Abend trotz sonst bester Bedingungen oft schon vom Start weg gelaufen. Dazu: Verstehen die Typen am Pult ihren Job oder stehen sie dort bloß wegen der guten Sicht und weil sie ein paar Groupies abzugreifen hoffen? Ist das Bier genießbar, oder besser, bekommt man überhaupt eines in angemessener Zeit? Das leidige Thema Umbaupause wollen wir jetzt mal großzügig aussparen... Es ist ohnehin kompliziert genug. Und trotzdem gab es genügend zu feiern 2019. Besonders sei auf die Münchner Kapelle Dicht und Ergreifend hingewiesen, die es schaffte, ganze drei Stunden eine Halle in Daueralarm zu versetzen, aktuell noch einmal nachzuprüfen im neuen Live-Video zu "Wach vom Wecka" weiter unten.

Übrigens: Wer herausbekommt, von welchem Konzert das Foto oben stammen könnte (in den Top Ten nicht gelistet, weil keine Review), der bekommt ein Vinyl seiner/ihrer Wahl aus den MPMBL-Albumcharts für lau, versprochen. Einsendeende ohne Widerspruchsrecht (wäre ja noch schöner) ist der 31.12.2019 punkt 23:59 Uhr! Los gehts...

10
Meret Becker And The Tiny Teeth
Münchner Volkstheater, November 2019

Ganz ehrlich, an Zufall wollte man da kaum glauben. Als um kurz nach acht im Münchner Volkstheater eine freundliche Dame verkündete, der Beginn der Veranstaltung verschöbe sich aufgrund technischer Schwierigkeiten um eine Viertelstunde, war man mit den Gedanken natürlich immer noch bei Meret Becker. Aber eben um 20:15 Uhr dann eben kurz auch bei Nina Rubin – Tatortzeit schließlich. Und auch klar: Wäre das Konzert auf den Sonntag vor zwei Wochen terminiert worden, es hätte wohl einige leere Plätze im Zuschauerraum gegeben. Denn die Rolle dieser Kommissarin, die Becker seit einiger Zeit in der ARD übernommen hat, ist ein solcher Glücksfall, so verletzlich, lebendig, chaotisch und zerrissen, kurz brillant gespielt, dass man sie unter keinen Umständen verpassen möchte. Selbst ihr Partner Mark Waschke alias Robert Karow, zwar als verdammt cooles, aber eben auch ziemlich arrogantes Arschloch gezeichnet, mußte letztens zugeben, sie sei die beste Polizistin, die ihm jemals begegnet sei. D’accord, keine Frage. Und wer jetzt meint, man könne die Folge doch jederzeit in der Mediathek abrufen, der bekommt sofort eine Anklage wegen vorsätzlicher Pointen-Zerstörung an den Hals! Done ... [mehr]

9
Neil Young And The Promise Of The Real
Olympiahalle München, Juli 2019


Es wäre natürlich ein Leichtes, das Ganze zeitgemäß ironisch zu verpacken. Die Dichte alter weißer Männer war einfach zu hoch, als dass man sie hätte einfach ignorieren können, sie traten in gutgelaunten Gruppierungen auf, wie man sie in dieser Stadt sonst nur von Baumaschinen- oder Handwerksmessen kennt. Einziger Unterschied: Hier trugen viele stolz zur Feier des Tages (oder eben Abends) ihre alten, aber frisch aufgebügelten Tourshirts von Crosby, Stills und Nash, Crazy Horse, vereinzelt waren auch die Ramones, Pearl Jam oder Nirvana zu sehen. So muß das wohl sein, wenn der Urahn des Grunge, Noise-Pate, Gottvater der verzerrten Folkgitarre, seine Füße für zwei Stunden auf irdischen Bühnenboden setzt und seinen Jüngern gemeinsam mit einer juvenilen Truppe eine Auswahl hymnisch verehrter Standards darbietet. Man kann aber auch die Ironie beiseitelassen und die Geschichte aus persönlicher, spätberufener Sicht erzählen: Wer wie der Rezensent (mittlerweile auch ein einigermaßen alter, weißer Mann) in der ostdeutschen Provinz aufgewachsen ist, der hat die Musik von Neil Young in der Jungendzeit vielleicht auch eher etwas abschätzig und aus sicherer Distanz wahrgenommen. Dann nämlich, wenn sich an den Wochenenden im Dorfgasthof die immergleichen langhaarigen, etwas heruntergekommenen Gestalten zum Ritual der Rockerrunde auf dem Parkett versammelten und ihre Mähne zum immergleichen Dreiklang aus „San Francisco“, „Country Roads“ und „Heart Of Gold“ schüttelten. Dann durfte, dann wollte man nicht stören, stand mit verständnislosem Blick am Rand und fühlte sich, naja, irgendwie überlegen, etwas weiter halt ... [mehr]

8
Element Of Crime

Circus Krone, München, Mai 2019


Da soll keiner behaupten, er kümmere sich nicht um den Nachwuchs. Die Ankündigung, wen das Publikum unter ausverkauften Zirkuskuppel als Vorband erwarten dürfe, machte Sven Regener höchstselbst, neben ein paar mäßig ernst gemeinten Bemerkungen, die Kerle von Isolation Berlin könnten aufgrund ihrer Jugend sowieso alles viel besser als die alten Herren, die ihnen später folgen würden. Tobias Bamborschke revanchierte sich seinerseits mit dem Dank dafür, dass Element Of Crime seine Band auf Tournee begleiten würden. Der Junge ist ja tatsächlich ein großes Versprechen an die Zukunft, er textet und musiziert nicht nur fabelhaft, sondern schreibt mittlerweile auch eigene, lyrische Verse zwischen zwei Buchdeckel. Und man darf annehmen, dass er sich wahnsinnig auf das Engagement als Begleitband gefreut hat. Als wir ihm in einem frühen Interview ein paar Kandidaten als mögliche Vorbilder aufzählten, fielen Rio Reiser und Peter Hein unbeachtet durch, Sven Regener allerdings lobte Bamborschke in allerhöchsten Tönen, ohne ihn, so meinte er, sei sein eigenes Coming Out als Musiker nicht vorstellbar gewesen. Der Meister und der Lehrling an einem Abend, eine schönere Paarung konnte es also gar nicht geben – das Publikum begegnete den jungen und lauten Burschen dann mit wohlwollend freundlicher Reserviertheit, so schnell läßt sich die Elterngeneration nicht aus der Reserve locken ... [mehr]

7
Robert Forster

Hansa 39, München, Mai 2019


Coverbands genießen gemeinhin einen ziemlich miserablen Ruf. Und das nicht zu unrecht. Sie haben alberne Namen, spielen nicht annähernd so gut wie die Originale und der selbstkomponierte Kram kann mit den Songs ihrer Idole so gut wie nie mithalten. Mit dieser hier verhält sich das allerdings etwas anders. Denn sie hat den unschlagbaren Vorteil, daß eines der maßgeblichen Mitglieder der zu covernden Band gleich mit zum Personal gehört – Mr. Robert Forster. Der Mann aus dem australischen Brisbane also, den man qua Erscheinungsbild und Gestik problemlos in eine mild beleuchtete, leicht angestaubte Oxforder Bibliothek stecken könnte, ohne dass er aus der Rolle fiele, dessen Stil und Auftreten auch auf einer Konzertbühne fast urbritisch sind. Bis auf Ehefrau Katrin Bäumer waren die restlichen Musiker seiner Liveband, die zu Teilen aus Schweden und Australien stammen, jedenfalls kaum auf der Welt, als die Go-Betweens zusammenfanden. Und auch wenn es etwas despektierlich klingen mag – der Altersschnitt des Publikums führt einem deutlich vor Augen, dass die Ikonen des Indierocks ja keine Band der frühen 80er, sondern eher der späten 70er waren. Und zu dieser Zeit tatsächlich etwas ganz und gar Neues waren – großartig blieben sie Zeit ihres Bestehens ... [mehr]

6
Pixies
Tonhalle, München, Oktober 2019


Das war schon vor dreißig Jahren so und ist auch heute noch frappierend: So klein der Mann, hier und da ein Jahresring mehr auf den Hüften, das Haar mittlerweile ein wenig grau und schütter. Man würde Charles Thompson aka. Frank Black, den hauptamtlichen Gruppenleiter der Pixies, eher am Infoschalter eines Baumarktes verorten (und auch da höchstwahrscheinlich übersehen) – Allerweltsgesicht, auf den ersten Blick keinen Marotten, Attitüden, der macht nichts von sich her. Und doch ist es eben dieser unscheinbare Typ, der den Kindern der Achtziger und allen Nachgeborenen ein beachtliches Arsenal an Sehnsuchtssongs in den Soundtrack des Lebens geschrieben hat, ihnen mit seinen spinnerten Geschichten, den dahingeschredderten Riffs und dem eigenwilligen Gesang, mal der wilde Schreihals, mal der geschmeidige Verführer, als Erlöser galt. Von „three chords and the truth“ war seine Band, waren seine Stücke weit entfernt, zu weird, zu dicht, krass, wandelbar. Auch er selbst taugte, so wissen wir nach Jahren, nicht zum Heiland, war/ist Zeit seines Schaffens als Diktator eine feste Größe. Ein Sturkopf. Ein Unverbesserlicher. Und doch: Ein Genie ... [mehr]

5
Trettmann
Tonhalle, München, Dezember 2019


Natürlich war das zunächst einmal ein erstklassiger Auftritt. Und ein dringend notwendiger sowieso. Die Jahre davor stand Trettmann ja im Ampere und im Crux auf der Bühne – Tickets kaum ranzukommen, Preise horrend, wer drin war King, draußen viel zu viele. Und auch diesmal, in der ungleich größeren Tonhalle, wären, mit Blick auf die einschlägigen Portale, gern noch mehr dabei gewesen. Ausverkauft. Was aber die Konzerte von dem Mann, den seine maximal begeisterungsfähige Crowd liebevoll Tretti ruft, eben auch immer zeigen: Spannende Widersprüche. Denn wann hat man schon mal so viele auf einen Schlag beeinander? In Sachen Stardom eher ein Spätstarter, seit dem Debüt „DIY“ aber der Meister aller Klassen – und zwar aus Karl-Marx-Stadt aka. Chemnitz. Weiter: Oben Ü40, unten U20. Heißt: Wo bitteschön bejubeln bereitwillig tausende junge Fans (Legende: Splash! 2019) einen Musiker, der unter anderen Umständen schon zur Kategorie „alter weißer Mann“ zählen dürfte? Noch dazu einen, der zwar die härtesten Typen zu seinen best Buddies zählt, selbst aber lieber soft und melancholisch textet ... [mehr]

4
The Streets
Muffathalle, München, Februar 2019

So müssen sie sich also angefühlt haben – die Nullerjahre. Man hat das ja fast schon vergessen, so schnell, wie sich die Kugel dreht. Die Zeit nach dem Jahrtausendwechsel hat damals wirklich einen denkbar blöden Namen verpasst bekommen und man darf sich heute fragen: Hätte sie nicht einen besseren verdient? Schon klar, wir hatten 9/11, den bösen Saddam und den noch viel böseren Bin Laden, eine Euro- und eine Bankenkrise und die Griechen haben uns auch wenig Freude bereitet. Aber hey, wir hatten auch Mike Skinner. Der Junge aus Nordlondon verkörpert wie kein zweiter diese Dekade und ein selbst damals noch immer ziemlich cooles Britannia, nicht das von Blur und Oasis zwar, aber immerhin jenes von Blair, Rooney, den Arctic Monkeys und eben The Streets. Kaum zu glauben, dass er fünf Alben in dieser Zeit veröffentlicht hat, voll mit feinsten Singles, die damals weitaus überraschender klangen als heute, da sich Rap etabliert hat und mit breiter Gischt im Mainstream mitschwimmt ... [mehr]

3
Rammstein
Olympiastadion München, Juni 2019

Man muss nicht Philosophie studiert haben, um zu wissen, dass die Zeit des Menschen größter Widersacher ist: Sie läuft uns davon, rinnt durch die Finger, kommt nie zurück, heilt keine Wunden, lässt sich nicht aufhalten und wenn sie dann doch mal stehenbleibt, dann in den unpassendsten Momenten. Die Zeit ist gnadenlos, unnachgiebig und gibt uns das Gefühl der Ohnmacht. Kurz: Sie ist nicht unser Freund. Auch weil sie stets trügt. Eine alte Regel besagt, dass man ein geliebtes Buch, einen Film aus der Kindheit oder Jugend kein zweites Mal lesen oder sehen sollte, man wäre immer enttäuscht, die schöne Erinnerung dahin. Wie es also halten, wenn man vor sehr, sehr langer Zeit, also sagen wir mal vor vierundzwanzig Jahren, ein Konzert erlebt hat, von dem man damals noch nicht wusste, wie es einzigartig war. Okay, auch Rammstein selbst dürften das damals nur geahnt haben. Herzeleid, die erste Platte, vor 300 Leuten im vollgepackten Münchner Nachtwerk. Elf Songs, mehr gab es noch nicht, dazu ein paar Flammenstöße unter die Saaldecke, infernalischer Krach, elendige Hitze, verschwitzte Körper – es war wunderbar. Geht man dann trotzdem in ein Stadion, gemeinsam mit zehntausenden Menschen, manche mit ähnlichen Erlebnissen, einige wenige mit Biografien, die noch in die bewegten Anfangstage zurückreichen, Inchtabokatables, Firma, Feeling B, diese Art Vergangenheit ... [mehr]

2
Dicht und Ergreifend
Olympiahalle, München, Oktober 2019

Dass ein „Yo, Man!“ oder besser „Servus, Oida!“ an so einem Abend allein nicht reichen würde, das war dem Urkwell Schorsch und dem Lef Dutti wohl ziemlich schnell klar. Die Olympiahalle ist eben schon ein anderes Kaliber, Länge mal Breite mal Höhe – größer als alles, was die beiden Niederbayern mit Dicht und Ergreifend jemals bereimt haben und so wurden wochenlang, gaben sie kürzlich beim Ringlstetter zu Protokoll, die Hirne malträtiert, um ein passendes Programm für die gewaltige Bühne auf die Beine zu stellen. Ähnlich der Blechkolchose La Brass Banda haben sie mit Mundart meets Moderne eine derart rasante Karriere hingelegt, dass es förmlich nach einer Krönung schrie – die Versuchung, eine solche Location zu zwingen ist da natürlich riesig. Genauso riesig wie das Risiko, mit Pauke (hier: Tuba) und Trompete zu scheitern. ‚Denken sie groß!‘ also – XXL-Leinwand, ein DJ-Pult von den Maßen eines Alpenkamms, Lametta-Kanonen, extra Laufsteg und Zweitbühne, das Equipment stimmte schon mal ... [mehr]



1
Sleaford Mods
Manchester Academy, März 2019

Natürlich darf gefragt werden, was einen wohl an einem Wochenende aus dem frühlingshaft warmen München ausgerechnet ins kalte, verregnete Manchester* treibt. Um eine Band zu sehen, deren Frontmann sich pausenlos in wütenden Tiraden über Land und Leute ergeht – Gift und Galle für das britische Establishment und die unfähige Politikerkaste, nichts also für ruhesuchende oder selbstzufriedene Feierabendgemüter. Nun, grundsätzlich sind die oft ungleich mühseligeren Unternehmungen leidenschaflicher Fans (das gilt im Übrigen auch für den Ballsport) mit rationalen Mitteln nicht zu erklären, spielen Dinge wie Entfernungen, Witterungsbedingungen und Kosten in den Erwägungen der Anhänger eher eine untergeordnete, ja vernachlässigbare Rolle. Desweiteren gelten die Sleaford Mods nicht nur im geschundenen Königreich noch immer als die Band der Stunde, eben weil sie sich so unnachgiebig und stur an den Missverhältnissen im eigenen Land abarbeiten und mit bewundernswerter Ausdauer der sozial benachteiligten Unterschicht eine laute, eine zornige Stimme geben. Man will sie nicht missen, muss sie vielmehr hören, um sich die Gründe ihres Unmuts selbst zu vergegenwärtigen, um wachsam und aufgeschlossen zu bleiben ... [mehr]

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