Mittwoch, 7. Februar 2018

Drahla: Die Nächsten bitte

Autobahn, FEHM, Colour Of Spring, Team Picture, Dead Naked Hippies, Eagulls, Team Picture, Chest Pains, aktuell die Hookworms, Alt-J sowieso, die Liste hoffnungsvoller Künstler aus dem nordenglischen Städtchen Leeds könnten wir ohne weiteres fortsetzen, sie ist erstaunlich lang. Mit Drahla wird sie nun noch ein Stückchen länger, das Trio muß in puncto Qualität bei den Genannten nicht um Anschluß fürchten. Luciel Brown, Rob Riggs und Mike Ainsley haben aktuelle ihre neue EP "Third Article" am Start, hypnotischer Sprechgesang, harte Gitarren, Böllerdrums, das kann sich hören lassen. Mit Metz und Ought auf Tour, von MJ (Hookworms) produziert, es kann so viel nicht mehr schiefgehen bei den dreien.



Peter Kernel: Die Vermessung der Nacht

Was wurde literarisch nicht schon alles vermessen? Die Welt natürlich, aber auch das Gewicht von Wasser, Liebe, Wasser, Himmel und Schmetterlingen sind schon abgefragt worden und fanden zwischen zwei Buchdeckeln ihre ausführliche Herleitung. Auch Barbara Lehnhoff und Aris Bassetti vom Schweizer Post-Punk-Duo Peter Kernel treibt offensichtlich eine ähnlich weltbewegende Frage um und so forschten die beiden für ihr neues, viertes Album nach nichts weniger als "The Size Of The Night". In den Linernotes zur Platte ist zu lesen, daß sie zu diesem Zweck ihre dunkelsten, geheimnisvollsten Momente zusammentrugen und versuchten, diese in Songformat zu bringen: "Es gibt keine Gebrauchsanweisung, um uns an Fehlern zu hindern, Menschen um uns herum nicht zu verletzen oder auf die richtigste Art und Weise zu lieben. Wir leben nur. Wir machen es gut und schlecht. Manchmal lernen wir, öfter dagegen nicht und machen einfach Fehler. Wir sind komplex. Wir können uns dumm verhalten und uns verloren fühlen. Wir können einander vermissen, auch wenn wir zusammen sind und nicht miteinander reden." Das klingt nicht nach Jubel, Trubel, Heiterkeit, das wissen sie selbst: "Mit diesen Songs, diesem Album versuchen wir zu akzeptieren, dass wir sehr sensible Menschen und gleichzeitig Arschlöcher sein können. Und das ist in Ordnung." Die erste Single nennt sich "Men Of The Women" und kommt mit einem Live-Video, der Rest dann am 9. März samt tröstlichem Hundeblick auf dem Cover.


Mit Verwunderung nehmen wir zur Kenntnis ... [#2/18]

... daß dieses Land ganz offensichtlich in einer Sinnkrise steckt, die schwerwiegender ist als bislang angenommen. In diesem Zusammenhang ist Verwunderung fast zu wohlwollend, Bestürzung träfe es besser. Denn wie anders als mit ungläubigem bis angsterfülltem Blick und weit aufgerissenem Mund sollte man auf den Umstand reagieren, daß die deutschen Albumcharts, sonst verlässlich von Granaten wie Unheilig, der Fischerhelene, den Bösen Onkels oder dem Maffaypeter angeführt, plötzlich die Hamburger Schulkombo Tocotronic mit ihrem Album "Die Unendlichkeit" auf Platz 1 listet!? Was ist da schiefgelaufen? Haben denn wirklich alle vorgeschalteten Kontrollmechanismen und Geschmacks-Gleichregler versagt? Oder ist Diskurspop das neue Volkslied? Fragen, die uns bitte mal der BVMI oder gleich Commander Dirk von Lowtzow beantworten soll. Letzterer kann dann auch gleich noch erläutern, wo um Himmels Willen seine Band die Kohle herhat, um in allen Münchner Tramlinien (und höchstwahrscheinlich auch im kompletten Universum) die Böden für Werbezwecke zu bekleben (s.u.) - so bekommt natürlich jeder dahergelaufene Bänkelsänger seine Platte an die Spitze!

Im oben genannten Kontext ebenso unerklärlich, warum unsere Kanzlerin Angela nicht endlich härter gegen satirische Amokläufer und Schmutzfinken wie den Oliver Welke vorgeht. Dieser hatte sich ja in seiner Sendung über einen stotternden Politiker der AfD beeumelt und mußte sich bekanntlich danach folgerichtig entschuldigen. Aber darf es das gewesen sein? Die beeumelte Partei hatte ja umgehend die "sofortige Entfernung" des Komikers aus dem Programm gefordert, wo aber bleibt der Ruf nach einer öffentlichen, standrechtlichen Erschießung (Plötzensee?) oder wenigsten der Deportation nach Mecklenburg-Vorpommern? Wo kommen wir denn hin, wenn eine einfache und ehrliche Entschuldigung bei einem solch schwerwiegenden Tatbestand ausreicht, was um alles in der Welt heißt denn das dann für die Holocaustrelativierer, die bei besagter Partei ein kuscheliges Plätzchen am revisionistischen Kaminfeuer gefunden haben?

Die Unendlichkeit mit Füßen getreten - irgendwo in den Weiten des Universums...

Dienstag, 6. Februar 2018

Ought: Gern dazwischen [Update]

Ein wenig abgedreht, eine kleine Spur drüber, das können sie gut, die Kanadier. Oft besser jedenfalls als die nordamerikanischen Schwestern und Brüder jenseits der Grenze, da muß immer alles gleich mordsmäßig ernst oder maßlos spaßig sein, dazwischen geht selten etwas. Ought zum Beispiel, das Post-Punk-Quartett aus Montreal, suchen sie geradezu, die feinen Zwischentöne, alles leiert, taumelt, schwankt ein bisschen - so wie auf "These 3 Things", der ersten Single ihres neuen Albums "Room Inside The World", das am 19. Februar bei Merge Records erscheinen wird. Für das Video zeichnen im Übrigen Jonny Look und Scottie Cameron verantwortlich - sehr unterhaltsam, das Ganze.

Update: Und auch von den Kanadiern gibt es Neues zu vermelden - Ought bringen mit "Disgraced In America" die zweite Vorabsingle samt Video in Stellung, diesmal unter Regie von Heather Rappard, kurz gefolgt von Cut Nummer drei "Desire".

03.05.  Köln, Bumann und Sohn
04.05.  Berlin, Kantine Berghain





Montag, 5. Februar 2018

Hookworms: Begrenzt verhandelbar

Hookworms
„Microshift“

(Domino Records)

Könnte gut sein, daß in Zusammenhang mit dem dritten Album der Hookworms auch der folgende Satz fallen wird: „Gut gemacht, aber für den großen Durchbruch wird es wieder nicht reichen…“ Das der fünfköpfigen Kapelle aus Leeds überhaupt so etwas wie ein „großer Durchbruch“ (was immer damit gemeint ist) zugetraut wird, liegt wohl daran, daß sie ihren Sound auf dem aktuellen Werk einer wahren Roßkur unterzogen haben – mit den äußerst sperrigen, nicht selten anstrengenden Psychrockorgien ihrer beiden ersten Platten „The Hum“ und „Pearl Mystik“ hat die neue überraschend wenig zu tun, zudem wurde das Studioequipment kräftig durcheinandergewirbelt und deutlich elektrifiziert. Wo früher nervenzerrende Jams dominierten, kommen nun häufig programmierte Beats, Overdubs und erstaunlich melodische Synthspuren zum Einsatz.



Schon der Opener „Negative Space“ nimmt den Gitarrengroove erst nach ein paar verfremdeten, aneinandergekoppelten Stimmfrequenzen hinzu, auch Tracks wie „Ullswater“ und „Opener“ huldigen eher dem Kraut- bzw. Elektrorock, nicht von ungefähr fühlt man sich eher an Bands wie Arcade Fire, Zoot Woman und Hot Chip erinnert. „Boxing Day“ pumpt sogar so poppig und zugleich ziemlich digital, daß man meint, Görl und Delgado hätten im Studio aktive, länderübergreifende Schützenhilfe geleistet. Das ist natürlich nur die eine Seite, denn natürlich sind die Hookworms im Kern eine experimentelle, gern auch unangepaßte Band geblieben. Wie schon zuvor lieben sie die epischen Ausflüge, dürfen Stücke also gern mal die Fünfminutengrenze überschreiten, ist vieles auch hier so angelegt, daß es sich langsam entwickelt und unvermittelt in atonalem Gekreisch gipfelt oder aber in kontemplativem Gewaber verläuft.

Dazu paßt auch, daß sich die Texte des sturmerprobten Quintetts – die ersten Aufnahmen zum aktuellen Album sind tatsächlich einem gewaltigen Unwetter zum Opfer gefallen – weiterhin nur schwer am Massengeschmack ausrichten lassen. Krankheit, Verlust, gar Depression und Tod illustrieren die konzeptartig ineinander verwobenen Stücke. Themen, die sich nur bedingt auf die Tanzfläche bringen lassen, daß es dennoch ab und an funktioniert, ist um so erstaunlicher. Auf einen Song wie das wunderbare „Shortcomings“ ganz am Ende hätten wir wohl ohne diese bemerkenswerte Neuorientierung verzichten müssen, daß die Hookworms deshalb der dunklen Seite noch nicht abgeschworen haben, darf man dennoch begrüßen. https://hookworms.bandcamp.com/

05.02.  Berlin, Privatclub

Sonntag, 4. Februar 2018

Nelson Can: Nachschub

Und weil wir gerade in der Nähe sind, geben wir gern eine Empfehlung des Netzportals In The Line Of Best Fit weiter. Die nämlich haben die Musik des dänischen Trios Nelson Can exzellent genannt und liegen damit, wie man sich anhand beiliegenden Materials überzeugen kann, komplett richtig. Selina Gin, Marina Juntunen und Signe SigneSigne stammen aus Kopenhagen und haben bislang ein Album und drei EP veröffentlicht, die letzte im Dezember vergangenen Jahres. Von dieser stammt auch die Single "Downtown", von der jetzt wiederum ein Videoclip nachgeschoben wurde.



Samstag, 3. Februar 2018

Kodacrome: Gut gemeint

Wer wollte auf diesen Ratschlag nicht gern hören? "Think Of The Children" ist der Name des zweiten Studioalbums von Kodacrome, dem New Yorker Electroprojekt von Elissa LeCoque und Ryan Casey. Seit 2010 sind die beiden gemeinsam unterwegs, 2012 gab es mit "Perla" die erste EP und zwei Jahre darauf veröffentlichten sie ihr Albumdebüt "Aftermaths", zu dem kurz darauf auch eine Remix-Version nachgeschoben wurde. Nun also die nächste Platte, von dieser gab es vor einiger Zeit schon die Vorauskopplung "Oh, You Two" mit kunstvollem Marionettenfilmchen, jetzt der Titeltrack - der Rest folgt dann am 13. April.



Freitag, 2. Februar 2018

MIEN: Schwärzer als alle anderen

"My black habit is stronger than yours", klingt wie der Wortwechsel zweier eingebildeter Dementoren - ist aber eine Textzeile aus der ersten Single einer anderen Supermacht: Tom Furse, Bassist von The Horrors, Black-Angels-Sänger Alex Maas, Rishi Dhir und John-Mark Lapam von den Earlies haben gemeinsam die Band MIEN ins Leben gerufen, wobei diese Redewendung für solch eine düstere Angelegenheit fast deplatziert erscheint. MIEN nämlich klingen wie ein schlechtgelauntes, langanhaltendes Brummen, kratziger Psychrock, Black Mountain mit Beats. "Black Habit" ist eines von zehn Stücken des selbstbetitelten Albums, das am 6. April erscheinen soll.

The Spook School: Die ewige Sehnsucht

The Spook School
„Could It Be Different?“

(Alcopop!)

Immer noch: Sehnsuchtsmucke! Warum das? Nun, zum einen klingen die vier SchottInnen (Ordnung muß sein heutzutage) auch nach fünf Jahren Spielbetrieb auf dem neuen Album nach dem, was man früher gern so gemacht hätte, wenn man sich denn getraut … - also nach Jugendzentrum, Schülerband der besseren Sorte, Spaß, Leidenschaft und Exzess. Zum anderen, da geht natürlich eins zum anderen, besingen sie auch noch die Themen dieser Zeit, also Sachen, die unsereiner nicht zwingend als die größten Probleme der Menschheit verifiziert, andererseits aber einiges drum gäbe, nur diese zu haben statt all der großen, schwerwiegenden, weltbewegenden Gedanken. Es geht bei The Spook School um enttäuschte Liebe, Selbstbestimmung („I Only Dance When I Want To“), Körpergefühl („Body“), darum, wie man sich fühlt, wenn der Partner sinnbildlich schon drei Häuser weiter ist und man selbst noch daheim im Dunkeln hockt und nicht loskommt von allem. Mal zeigen Nye Todd, Adam Todd AC Cory und Niall McCamley uns den Mittelfinger (“Still Alive”), an anderer Stelle geht es darum, daß man durchaus auch mal ausgiebiger herumheulen darf, wenn es denn danach besser geht (“Alright”). Wie gesagt, nicht die hohe Kunst der Philosophie, dafür aber mit viel Humor und Charme. Der Sound der vier pendelt zwischen knackigem Collegerock , Shoegazingmomenten und Punkattitüde, die Gitarren schrammeln fein – alles angenehm einfach, kurzweilig, unterhaltsam und deshalb unterwegs auf dem denkbar kürzesten Weg in die Ohren und von dort gleich weiter in die Herzen der Zuhörer. https://the-spook-school.tumblr.com//#_=_

Donnerstag, 1. Februar 2018

Bryde: Wunschprogramm [Update]

Und noch eine "alte" Bekannte: Sarah Howells aka. Bryde hatten wir zuletzt im Februar auf dem Zettel, damals war ihre Single "Less" der Anlaß. Nun hat die sympathische Londonerin, die ihre Vorliebe für harsche Gitarren nicht verhehlen kann, einen neuen Song parat - "Desire" stammt vom für das nächste Frühjahr angekündigten Albumdebüt, Mix und Produktion haben Chris Sorem und CJ Marks übernommen, die auch schon bei Wolf Alice, PJ Harvey und St. Vincent auf der Payroll standen. Ende November, das ist die zweite gute Nachricht, ist Howells auch in Deutschland zu Gast.

Update: Dann dürfen wir an dieser Stelle gern aktualisieren. Auf den 13. April nämlich ist nun das Debütalbum von Bryde angesetzt, "Like An Island" ist der Titel und mit "To Be Brave" haben wir nicht nur eine weitere Single, sondern auch ein paar frische Livetermine dabei.

08.05.  Hamburg, Astra Stube
09.05.  Berlin, Kantine Berghain
10.05.  Köln, Yuca
12.05.  Zürich, Exil
13.05.  Wien, B72

Mit Verwunderung nehmen wir zur Kenntnis ... [#1/18]

... daß am 9. Februar in der Haupstadt das erste Berliner Twerk Battle stattfindet, und zwar um 22:00 Uhr im Festsaal Kreuzberg. Wer diese Veranstaltung, Stargast Bass Sultan Hengzt und die Antidiskriminierungsbemühungen diverser Frauengruppen und -verbände trotz ausreichend Fantasie nicht übereinander bekommt, heißt entweder Alice Schwarzer und/oder ist tatsächlich schon ziemlich in die Jahre gekommen. Das Motto lautet übrigens: "We twerk because we can!" Siehste mal.

Mindestens verwunderlich, wenn nicht sogar grob verwerflich ist der Umstand, daß für die anstehende Konzerttournee der irischen Emo-Maschine U2 in Köln, Hamburg und Berlin die regulären Sitzplatztickets mit 230 Euro oder mehr gehandelt werden. Und zwar nicht bei Ebay, sondern beim offiziellen Netzdealer Eventim. Meet + Greet oder gar ein Rundflug über den Panamainseln sind im Preis übrigens ausdrücklich nicht enthalten. Was daran dann Innocence ist, wird Rächer Bono den Enterbten bald mal erklären müssen, eine Experience ist es in jedem Falle.

In höchstem Maße ärgerlich sind wir über den Hinweis, daß sich die Band mit dem wohlklingenden Namen Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen jetzt, da wir ihre Songs entdeckt haben (Ja, es ist nicht alles schlecht an Spotify, Leute!), schon wieder aufgelöst hat. Im Speziellen hat es uns der Titel "Leb so, daß es alle wissen wollen" von der Platte "Postsexuell" angetan, ist schon ziemlich alt das Teil, was uns dann wieder zu Punkt 1 abzüglich Alice Schwarzer führt. Schönen Abend noch.

Acht Eimer Hühnerherzen: Einmal mit alles

Einen kleinen Querverweis zur Band aus Kreuzberg gab es vor wenigen Tagen schon, aber da wir annehmen dürfen, dass dieser in der allgemeinen Hektik verlustig gegangen ist, kommen wir jetzt nochmals darauf zu sprechen: Acht Eimer Hühnerherzen - das fängt schon mal gut an. Und jetzt das Erfreuliche: Das geht auch gut weiter. Die Berliner Eine-Frau-Zwei-Mann-Kapelle wird im März bei Destiny Records/Broken Silence ihr gleichnamiges Debütalbum herausbringen und weil sie treffender kaum sein könnte, zitieren wir an dieser Stelle einfach mal ihre eidesstattliche Selbstauskunft zu Stil und Haltung: "Irgendwo zwischen Hansaplast und Violent Femmes, zwischen Lassie Singers und akustischen Pixies, X und Firehose, Lilliput ohne Gepfeife, Neonbabies ohne Humpe, Wir sind Helden plus Anarchie und Genialität ..." - ach, schön. Apocalypse Vega, Herr Bottrop und Bene Diktator durften teilweise schon Erfahrung in anderen Neigungsgruppen sammeln, mit dieser hier dürfte der Spaß garantiert sein. Von ihren Auftritten im heimatlichen Kiez kann man sich bei Youtube einige Filmchen anschauen, für "Mittelmass" gibt es ein mehr oder weniger autorisiertes gleich vor Ort.

Mittwoch, 31. Januar 2018

Idles: Kollektive Explosion [Update]

Idles
PULS Indoor Festival, BR Funkhaus, 2. Dezember 2017
(Chuckamuck, Meute, Gurr, Megaloh, The Big Moon u.a.)

Was für ein schöner Zufall: Genau an dem Tag, an dem die Idles in München gastieren, schreibt der Stadt größte Tageszeitung einen Artikel über eine Ausstellung in Frankfurt, genau zu der Zeit, da die Idles durch Deutschland touren, eröffnet dort nämlich eine Ausstellung mit dem Titel „SOS Brutalismus“. Faust auf’s Auge, denn das Debüt der Post-Punk-Kapelle heißt „Brutalism“ und natürlich ist die Band mit ihrem Sound nicht weit entfernt von der Entstehungsgeschichte des besagten Begriffs – Beton Brute, so die französischen Wurzeln des Architekturstils, bezeichnet zunächst einmal die rohe, ungeschönte Form des Materials, von Brutalität ist da noch nicht die Rede. Aber natürlich sind die Assoziationen artverwandt, die beim Betrachten der Kathedralen des Brutalismus in Boston, Wien oder Algier und beim Hören der Musik der fünf entstehen – überwältigend, rabiat, kollossal, und ja, eben auch brutal.



Es ist leicht zu erkennen, daß viele der Gäste das alljährliche Festival nur wegen der weißgewandeten Herren aus Bristol aufgesucht haben. Während nebenan die Hamburger Techno-Brass-Formation Meute das Publikum gehörig in Schwung bringt, herrscht im Saal 2 eher gediegene Langeweile. Chuckamuck holen mit Mühe nur die ersten zweieinhalb Reihen aus der Lethargie, die ach so angesagten Girls von The Big Moon covern schon nach einer Viertelstunde Bonnie Tylers „Total Eclipse Of The Heart“ und werden, was Wunder, auch danach nicht eben mit Beifallsstürmen belohnt. Erst Andreya Casablanca und Laura Lee Jenkins von der Berliner Formation Gurr gelingt der erwartete Turnaround – im Vergleich zu ihrem letzten Auftritt im Frühjahr sind sie noch eine willkommene Spur derber, rotziger geworden, jetzt ist die Menge da, jetzt springt die Moshpit, Ihre abschließende Variation von „Helter Skelter“ kickte folgerichtig um Längen mehr als der bemühte, laue Aufguss der Damen aus London, selbst ein amtliches Crowdsurfing stand am Ende zu Buche. Passt.

Dass es danach noch eine Spur krasser werden würde, ließ sich allein daran erkennen, daß Joe Talbot, Frontmann der Idles, schon während der Umbaupause in angespannter Nervosität die Bühne entlangtigerte, da traute sich selbst die eloquente junge Dame des BR kaum, eine ihrer gefürchteten Anmoderationen zum Besten zu geben – der Mann war ja quasi schon im Sprung. Hinzu kamen hierauf: Schlagmann John Beavis, der rotbärtige Bassist Adam Devonshire (bestens bekannt von seiner legendären Videoperformance aus der Londoner Tate), der irre gute Gitarrist Lee Kiernan, der komplett irre und ebenso gute Gitarrist Mark Bowen – und dann ging er ab, der Punk. Gerade haben die Herren die Auszeichnung zum besten Live-Act der Association of Independent Festivals (AIF) gewonnen und auch wenn man um der Coolness willen mit solch einem Award nicht hausieren geht – schnell wird klar, warum diese Auszeichnung alternativlos war.



Von der ersten Sekunde des (bedauerlich kurzen) Sets an prügelt die Band ihre geballte Energie ungebremst in die Halle. Bowen und Kiernan haben sich offensichtlich entschieden, mehr Zeit vor als auf der Bühne zu verbringen und Devonshire drückt zusammen mit dem Drummer gnadenlos eine Basswelle nach der anderen aus den Boxen. Die johlende Menge nimmt diese dankbar in Empfang, wiegt, zuckt, springt zu Killern wie „Mother“, „Well Done“ oder „1049 Gotho“ – Brexit Stories: „We love the European Union – we miss her so much!“ Exemplarisch der Moment, als Bowen sich ins Parkett setzt und alle im Saal auffordert, es ihm gleichzutun. Die Band hält in ihrem Furor inne, bremst kurz ab, bis auf einen Schlag der Raum explodiert und alle und alles nach oben fährt, mittendrin der verrückte Kerl mit der Gitarre. Eine Intensität, von einer Unmittelbarkeit, die ganz schwer zu toppen ist, man kann nur hoffen, daß sie München bald wieder auf den Tourplan setzen und bis dahin unverletzt bleiben. Best show of the year, word.

Update: Mittlerweile ist es raus - die Idles haben bei Partisan Records angeheuert und auch ihr neues, zweites Album ist auf der Zielgeraden. Das Interview des BR deshalb als Vorgriff und Nachbereitung zugleich.

Liebe Frau Gesangsverein: Kein Wunder

Mal ganz ehrlich Leute - Frau und Punk, das geht nicht zusammen? Das ist irgendwie anders? So mancher Text, den man in letzter Zeit über die Kölner Truppe Liebe Frau Gesangsverein liest, kommt aus dem Wundern gar nicht raus, ganz so, als hätte es Patti Smith, Kathleen Hanna, Viv Albertine, Ari Up oder meinentwegen auch Nina Hagen nicht gegeben. Ricarda Giefer jedenfalls nimmt die Sache (wie nicht anders zu erwarten) kämpferisch, an ihr soll es also nicht liegen, das Klischee. Für den 26. Februar haben sie und ihre drei Mitstreiter das Debütalbum "Nackt" via Roaring Disc Records angekündigt, nach der ersten Auskopplung "Hier sein ist so schwer" gibt es heute mit "Für immer wieder" noch einen obendrauf.

23.03.  Bochum, Wageni
05.04.  Dresden, Chemiefabrik
06.04.  Leipzig, Mörtelwerk
07.04.  Berlin, Trickster
14.04.  Koblenz, Circus Maximus
28.04.  Graz, tba



The Streets: New Private Material [Update]

Auch wenn man solche Unterteilungen gescheiterweise besser nicht vornehmen sollte, aber der weiße Rap (so es ihn denn gibt), pfeift seit einiger Zeit auf dem letzten Loch. Wäre da nicht Eminem mit einem neuen Album, es sähe gänzlich düster aus. Die Beastie Boys sind leider perdu, House of Pain bzw. Everlast ebenfalls, Kid Rock ging noch nie und nach Trump schon gleich dreimal nicht, Action Bronson läßt sich viel, vielleicht zu viel Zeit und Die Antwoord sind für die Nische und kaum für die Masse. Bliebe noch Mike Skinner aka. The Streets. Der hat den Rap auf die Insel und von dort wieder unter die Leute gebracht, formidable Alben eingereicht und selbst Leuten wie den Sleaford Mods den Weg geebnet. Gerade teilt er wieder mal zwei neue Songs - "Burn Bridges" und "Sometimes I Hate My Friends More Than My Enemies". More is yet to come - hopefully.

Update: Irgendwer überrascht, daß das Konzert im Heimathafen Neukölln schon ausverkauft ist!? Nee, 11. April, nur mal so nebenbei. Als Trost heute einen weiteren neuen Song "If You Ever Need To Talk I'm Here" - na, wäre schön gewesen.



Dienstag, 30. Januar 2018

BELGRAD: Nur die Liebe zählt

BELGRAD
Support: Dikloud
Backstage, München, 29. Januar 2018

Manchmal ist es wirklich etwas traurig. Wenn man oft auf Konzerten unterwegs ist, erlebt man neben den vielen guten natürlich auch die schlechten. Und eben leider auch die guten, die schlecht besucht sind. BELGRAD, Post-Punk-Kapelle aus Berlin und Hamburg, Clash of Generationen plus Lebensläufe, haben gerade mit ihrem gleichnamigen Debüt eine der besten deutschsprachigen Platten zur Zeit veröffentlicht. Und wenn wer behauptet, der Erscheinungtermin kurz vor Jahresschluß war schlecht gewählt, dann hat er sicher zur Hälfte recht. Eigentlich aber ist das Album noch früh dran, denn auch wenn es abgeschmackter nicht klingen könnte – zur ernsthaften Auseinandersetzung mit dem bald anstehenden Jubiläum der Wiedervereinigung kann es keinen besseren Soundtrack geben als diesen. BELGRAD wollen weder abfeiern noch abwinken, ihre Musik ist weder billiger Kitt für allzu offensichtliche Brüche noch destruktive Verneinung des Faktischen. Nein, so simpel das klingt – sich ein paar eigene Gedanken machen, das würde schon reichen. Anregen, anstoßen, irritieren, das ist ihr Ziel. Und dann? Kommen nur dreißig Leute.

Fast möchte man sich also entschuldigen für die Münchner Ignoranz. Iwo, meint Sänger Leo Leopoldowitsch nach der Show, alles halb so wild. Natürlich hätte man sich ein paar Leute mehr im Publikum gewünscht, keine Frage. Aber schließlich wäre dies ihre erste Tour mit der neuen Band, da seien die Erwartungen eher vorsichtig. Und München stände ja keineswegs allein da – quer durch die Republik gäbe es solche und solche Abende: Münster packed, Hannover ebenfalls rappelvoll, Hamburg und Berlin ohnehin, Düsseldorf und Köln eher mau bis dröge, es braucht halt seine Zeit. Vielleicht lags auch daran, daß die komplette Besatzung ihren „Day Off“ in einer Münchner Sauna verbrachte, also Tiefenentspannung und so. Leopoldowitsch hätte im Übrigen guten Grund gehabt, die Lust zu verlieren, schließlich steht er während der Reise fast die doppelte Zeit auf der Bühne – zunächst mit seiner Punk-Formation Dikloud, später mit Hendrik Rosenkranz, Ron Henseler und Stephan Mahler für die Hauptrunde.

Die dann im Vergleich zum ohnehin schon sehr gelungenen Album mit der flankierenden Videokunst noch um einiges zwingender, drängender erscheint, meint: Livepräsenz ersetzt Visualisierung – passt auch. Am beeindruckendsten vielleicht das Schlagzeug. Stephan Mahler hat dort schon (er hört das nicht gar so gern) in den Achtzigern und Neunzigern bei den Hamburger Urpunks Slime gesessen, seine Erscheinung ist so beeindruckend wie die Wucht, die er auf die Felle bringt. Und man wird gewahr, daß er nicht wenige Stücke der neuen Platte auch selbst singt, ihm verdankt das Publikum wohl auch ein Cover der Hamburger Noiserock-Legenden Die Erde. Ein kraftvolles Set, all die denkwürdigen (s.o.) Nummern “Osten”, “Westen”, "Niemand” mit dabei, der Bass satt, der Sound raumgreifend, nichts auszusetzen. Und das Publikum? Dankt es mit den Vieren mit warmem Applaus. Und genau deshalb ist weniger zwar nicht mehr, aber ausreichend. Sagt Leopoldowitsch: “Wenn aus dem Publikum etwas zurückkommt, dann ist es auch egal, wie wenige da unten stehen. Dann ist das gut.” Glück gehabt, München.

30.01.  Zürich, Dynamo
31.01.  Stuttgart, JuHa West
01.02.  Oberhausen, Druckluft
02.02.  Leipzig, Neues Schauspiel
03.02.  Dresden, Scheune

Ultimate Painting: Aufwärts geht's

Auch ein schöner Name, auch feine Musik: Die Londoner Indiekapelle Ultimate Painting hat die Veröffentlichung ihres vierten Albums angekündigt - "Up!", so der prägnante Titel, soll am 6. April bei Bella Union erscheinen und mit "Not Gonna Burn Myself Anymore" schicken die Herren um Sänger und Songwriter Jack Cooper eine erste Kostprobe voraus, neun weitere sollen bald folgen. Im vergangenen Jahr mit den Fleet Foxes unterwegs, kürzlich in Berlin und Köln zu Gast, auf neue Livedaten müssen wir dann aber noch ein wenig warten.

Soccer Mommy: Sicher kein Bettgeflüster

Wenn es demnächst an die Wahl der lässigtsen Bandnamen des Jahrzehnts geht, ist Sophie Allison garantiert ganz vorn mit dabei. Denn Soccer Mommy ist so aufgeladen mit Klischees, wie man es hierzulande nur von Spielerfrauen und Charityladies kennt. Und als Pseudonym eben an Coolness kaum zu schlagen (okay, kürzlich lag eine CD der Band Acht Eimer Hühnerherzen im Postfach, aber das ist eine andere Geschichte). Von Allison jedenfalls ist bei Wikipedia vermerkt, sie mache Bedroom Pop und da fragt man sich schon, wie es in manchem Schlafzimmer so zugehen mag - ihr Debütalbum "Clean", angekündigt für den 2. März via Fat Possum Records, dürfte und sollte da einiges geraderücken - den Anfang hat ja schon die Single "Your Dog" gemacht, jetzt kommt "Cool" hinterher.



Sonntag, 28. Januar 2018

Steiner und Madlaina: Nicht immer nur Familie

Anders wäre das mit den Namen wohl auch nicht gegangen. Dann hätte man auch gleich schreiben können "Die mit Fabers Schwester" oder "Liedermachertochter plus eins". Denn der Name Pollina hat selbst hierzulande mittlerweile einen anderen Klang bekommen, seit Julian Pollina die Familientradition fortsetzt und unter dem Namen Faber für Furore und ausverkaufte Hallen sorgt und selbst seinen berühmten Vater Pippo verzückt. Daß die Schwester keinen Grund hat, dabei abseits zu stehen, beweist sie zusammen mit Nora Steiner - erfreulicherweise kommen Steiner und Madlaina, so sind die beiden unterwegs, nun im Vorprogramm der einiger Konzerte des Bruders zum Auftritt. Auf ihrer aktuellen EP "Speak" (Glitterhouse Records) findet sich unter den sechs Stücken auch "Alles ist möglich", dessen Video schon im letzten Jahr ins Netz ging - wir wollen es dennoch nicht vorenthalten.

14.02.  Innsbruck, Treibhaus
15.02.  Linz, Posthof
16.02.  Ulm, Roxy
17.02.  Regensburg, Airport
18.02.  Passau, Zeughaus



Freitag, 26. Januar 2018

Tocotronic: Lebenserhaltende Maßnahme

Tocotronic
„Die Unendlichkeit“
(Vertigo/Universal)

Man darf das ruhig als Privileg betrachten, in dem Alter gibt’s ja nicht mehr viele davon. Daß also eine Band eine so große Spanne des eigenen Lebens lückenlos bespielt, da ist, wenn man sie braucht, am Soundtrack der Biografie mitschreibt, ohne das Leben eines jeden Hörers auch nur ansatzweise in seinen Verästelungen, Wendungen, Brüchen kennen zu müssen. Sie singen vom eigenen – das allein reicht. Und sie tun dies auf der aktuellen Platte mehr denn je und, das ist neu, in programmatischer Form und Folge. Tocotronic haben in den nunmehr fünfundzwanzig Jahren ihres Bestehens schon immer verschiedene Wachstumsphasen thematisiert, waren mal mehr, mal weniger direkt, hier laut und trotzig, dort geheimnisvoll, sphärisch, dunkel sowieso. Nun begleiten sie ihren Protagonisten, nennen wir ihn der Einfachheit mal Dirk, über zwölf Kapitel durch dieses undurchschaubare, kaum planbare, manchmal schmerzhafte, manchmal komische Thing called Leben.



Alles, was diese Zeit mit ihm und uns gemacht hat, was sie geschenkt, was sie genommen hat, welche Rätsel sie aufgab, wann sie einen unsterblich machte und wann sie uns ob unserer Unvollkommenheit und Schwäche frech ins Gesicht lachte, all das ist dabei – zwölf Lieder eben. Die Rebellion, die Lüge, die Träume, das Unverstandensein, die Erkenntnis (die schmerzliche wie die tröstende), Gefühlstau, Enttäuschung, Sehnsucht, und mehr. Das klingt oft wunderbar, manchmal recht wunderlich. „Electric Guitar“ zum Beispiel ist so brillant auf den Punkt, die weiche Stimme, der warme Sound, der Blick zurück auf eine Zeit voller Peinlichkeit, Unentschlossenheit und großen Entdeckungen, die Gitarre als lebensrettende, ja -erhaltende Maßnahme. Dort, wo man von lauter Unverstand umgeben war, konnte sie einem als einzige ein kleines Stück Würde bewahren. Ebenso „Hey Du“, Spießerbeton, rauer Jargon (geborgt), die „Schwarzwaldhölle“ drängt zum Aufbruch – wohin? Egal, einfach raus!



Wenn Tocotronic mal ein paar Metaebenen eindampfen, dann kommt das manchmal erfreulich klar an. An anderer Stelle eher bemüht – „1993“ klingt ziemlich weird, verrückt, über’s Knie gebrochen. Ein jeder hat ja bei dieser Band den Stil, den er am liebsten mag, seine Epoche, seine Phase. Das Schattige, Unscharfe, Unwägbare hat bei ihnen schon immer einen großen Raum eingenommen, es galt nicht zu Unrecht den Sieg der puren Vernunft zu verhindern, den Zweifel zu loben, das Unsagbare irgendwie in Worte zu fassen. Auch diese Platte hat, gerade im letzten Drittel, solcherlei leidenschaftliche, halt- und hilflose, auch bedrohliche Momente, wenn die Rettung von unerwarteter Seite kommt, das weiße Licht den Neuanfang, den Morgen ankündigt und man trotzdem nicht weiß, was wohl wird.. Da rücken sie ganz nah an einen heran – Zusammenhalt. Ein Ende in Ernüchterung und Klarheit, alles zu wollen und (nur?) den Nächstbesten zu bekommen. Reicht das? Und: Was sagt Google dazu? „Bitte, verlasst mich nicht!“ singt der Dirk. Wie könnten wir. https://tocotronic.de/